Tödliche Dunkelheit. Heribert Weishaupt

Tödliche Dunkelheit - Heribert Weishaupt


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die Rast in dem kleinen Ort nicht wie Tobias zum Schlafen genutzt. Stattdessen hatte sie in ihr Tagebuch geschrieben und sich Gedanken über sich, über Tobias und über ihr gemeinsames Zusammenleben gemacht – wie immer ohne direkte Konsequenzen.

      Anna rutschte tief in den Beifahrersitz. Der Sicherheitsgurt spannte und war ihr unbequem. Da nur wenig Verkehr auf der Autobahn herrschte, löste sie, trotz Tobias‘ Einwand, den Gurt und duselte vor sich hin.

      Es war fast wie früher, als sie noch ein junges Mädchen war und mit ihren Eltern in Urlaub fuhr. Meistens fuhren sie morgens sehr früh los, wenn es noch dunkel war. Bereits nach wenigen Kilometern auf der Autobahn schlief sie regelmäßig ein. Sie erwachte erst, wenn die Sonne hoch am Himmel stand und es im Wagen heiß und stickig war. Sie erinnerte sich, dass sie immer wieder ihre Eltern mit der Frage nervte: Wann sind wir da? Ihr Vater reagierte darauf sehr ungehalten. Ihre Mutter beschwichtigte dann immer und spielte mit ihr das Spiel: Ich sehe etwas, das du nicht siehst. Sie mochte dieses Spiel und sie mochte ihre Mutter, die ihr ihre ganze Aufmerksamkeit schenkte. Wenn sie sich jetzt daran erinnerte, spürte sie wieder dieses Gefühl von Glück und Geborgenheit – wie damals. War ihr dieses Gefühl im Laufe des Erwachsenwerdens abhanden gekommen oder fühlte sie sich in ihrer Beziehung nicht richtig glücklich und geborgen? Wieder die alte Frage, dachte sie und verdrängte die Gedanken – zumindest fürs Erste, beschloss sie.

      Hin und wieder überholte Tobias einen LKW. Von Berufsverkehr, wie er in Deutschland zu dieser Uhrzeit üblich ist, war hier nichts zu spüren. Daher war die Fahrt für Tobias stressfrei, wobei er die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h pedantisch einhielt. Jeden Überholvorgang konnte er ohne besondere Voraussicht einleiten. Die linke Fahrspur war so gut wie kaum befahren.

      Tobias wollte gerade ansetzen, einen langsam fahrenden LKW zu überholen, als die Bremsleuchten des LKW unverhofft aufleuchteten. Zusätzlich schaltete der Fahrer die Warnblickanlage ein und drosselte erheblich sein Tempo.

      „Verdammt, was soll das?“, zischte Tobias leise.

      Er vermutete einen Stau, obschon er sich das bei dem geringen Verkehrsaufkommen nicht vorstellen konnte. Auch eine Baustelle war vorher durch Hinweisschilder nicht angekündigt.

      Er lenkte seinen Wagen auf die linke Spur, um eine bessere Sicht nach vorne zu haben.

      Anna, die wohl die etwas hektischen Bewegungen von Tobias und seine Unmutsäußerung im Unterbewusstsein wahrgenommen hatte, öffnete die Augen und stieß augenblicklich einen schrillen Schrei aus.

      Tobias stieg voll in die Bremsen.

      Er umklammerte mit beiden Händen das Lenkrad, sodass die Knöchel weiß hervortraten.

      Das Antiblockiersystem des PKWs setzte ein und bewirkte die maximale Bremskraft.

      Der Wagen begann zu ruckeln.

      „N-e-i-n !!“, schrie Tobias.

      Tobias‘, als auch Annas Augen weiteten sich völlig unnatürlich.

      Tobias riss das Steuer nach rechts, um sich wieder hinter den langsam weiterrollenden LKW zu setzen.

      Doch es war zu spät.

      Der Geisterfahrer erfasste seinen Wagen frontal.

      Ein fürchterlicher Knall zerriss die Luft, als Blech auf Blech traf.

      Wie von allein wurde der Wagen von Tobias um die eigene Achse geschleudert.

      Gegenstände flogen von der Rückbank durch den Innenraum.

      Gleichzeitig zerbarst die Windschutzscheibe in unzählige kleine Partikel und die Airbags lösten aus.

      Die Wucht des Aufpralls hob den Wagen des Geisterfahrers an und setzte ihn wie von einer unsichtbaren Hand gelenkt auf die Mittelleitplanke.

      Der PKW von Tobias und Anna wurde mit der Motorhaube bis zur Fahrerkabine unter die Seite des LKWs geschleudert. Von der Wucht des seitlichen Aufpralls drehte sich der LKW und stand quer über der Fahrbahn.

      Mit einem Mal schien der Spuk vorbei zu sein.

      Hin und wieder hörte man ein Zischen, ein Quietschen und ein Klappern, wenn ein Blechteil zu Boden fiel.

      Dann herrschte schlagartig Totenstille.

      Nur aus dem Lautsprecher in Tobias‘ und Annas PKW drang makaber der Queen-Song „Who wants to live forever“.

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      Es ist ein schöner Spätsommermorgen. Der Sommer zieht noch einmal alle Register, bevor er sich abmeldet und es wird noch einige Zeit dauern, bis der Herbst das Regiment übernimmt. Die Sonne scheint von einem fast wolkenlosen Himmel. Das Laubwerk der hohen, alten Bäume taucht den Waldweg in einen angenehmen Schatten. In kurzer Entfernung vom Weg schnattern Enten auf einem Teich um die Wette. Am gegenüberliegenden Ufer ist der Teich großflächig mit Seerosen bedeckt. Im ufernahen Flachwasser steht ein Graureiher und wartet bewegungslos auf Beute.

      Obschon es noch sehr früh ist, spielen einige Kinder am flachen Seeufer und die Mütter sitzen auf einer der einfachen Bänke und unterhalten sich. Insgesamt wirkt der Ort friedlich und harmonisch. Am Wochenende wird er von vielen Menschen aufgesucht. Jung und Alt, Familien mit Kindern, Spaziergänger, Radfahrer und Jogger suchen in diesem Teil des Waldes Entspannung und Erholung vom Alltag. An einem Montagmorgen wie heute, wird der See nicht stark besucht.

      Seit diesem Sommer nutzt Anna die frühe, morgendliche Frische oft für einen Spaziergang zum See. An sonnigen Tagen verweilt sie gerne einige Zeit auf einer der rückenlosen Bänke. Das ist auch heute ihre Absicht. Ihr weißer Teleskopstock mit einer Kugel am Ende kratzt über den festen Boden des Waldweges. Sie weiß, nach exakt noch neun Schritten befindet sich auf der linken Seite eine Bank. Manchmal kommt es vor, dass die Bank besetzt ist. Dann verzichtet sie auf die kurze Rast und schlägt direkt den Rückweg ein. Heute ist ihr der Spaziergang schwergefallen und sie hofft daher, dass sie eine freie Bank vorfindet.

      Sie tastet mit dem Stock im weiten Bogen vor sich den Weg ab. Nach ihrer Einschätzung muss sich die Bank in unmittelbarer Nähe befinden.

      „Kann ich Ihnen helfen?“, fragt eine freundliche Frauenstimme.

      „Ja, gerne. Ich suche eine freie Bank. Heute fällt es mir etwas schwerer, sie zu finden. Ich möchte mich etwas ausruhen und dann den Rückweg antreten.“

      „Kommen Sie, ich führe Sie hin. Sie stehen fast davor.“

      Die Frau fasst Anna vorsichtig am Arm und leitet sie etwas nach links. Nach wenigen Schritten schlägt Annas Stock gegen die Holzbalken der Bank.

      „Hier können Sie sich setzen. Wir sitzen auf der Bank auf der gegenüberliegenden Seite des Weges. Wenn Sie Hilfe benötigen, rufen Sie einfach. Die Kinder spielen am Wasser.“

      „Vielen Dank. Aber ich komme schon zurecht.“

      Anna bleibt noch einen Augenblick stehen, bevor sie sich hinsetzt. Sie legt den Kopf in den Nacken und lässt den seichten Wind über ihr Gesicht streichen. In diesem Augenblick ist sie ganz bei sich. Sie spürt das Herz in ihrer Brust schlagen. Es tut ihr gut, aus dem Haus herauszukommen und die Natur zu erleben.

      Anna setzt sich hin und atmet erleichtert aus. Sie genießt die wenigen, warmen Sonnenstrahlen, die durch das Blätterwerk der Bäume bis zu ihr durchdringen.

      Es ist schön, dabei den freudigen Stimmen der Kinder und dem Schnattern der Enten zu lauschen. Das Schnattern wechselt sich hin und wieder mit dem Gurren einer Taube ab. Annas Gehirn produziert aus der Erinnerung das Bild einer Taube mit ihren starren, ausdruckslosen Augen ohne Wimpernschlag. Anna erinnert sich an den Ausspruch: Die Augen sind der Spiegel der Seele. Sind diese leblos wirkenden Augen ein Indiz dafür, dass Tauben keine Seele besitzen? Annas Augen sind ebenfalls leblos und ausdruckslos, die keinen Lichtstrahl und kein Bild mehr aufnehmen. Hat auch sie keine Seele mehr? Hat sie mit dem Verlust des


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