Tödliche Dunkelheit. Heribert Weishaupt

Tödliche Dunkelheit - Heribert Weishaupt


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Vielleicht ist das auch gut so.

      „Wir wollen gehen. Möchten Sie uns bis zum Parkplatz begleiten? Das ist bestimmt einfacher für Sie, als allein durch den Wald zu gehen. Man stolpert doch leicht über eine Wurzel oder über einen Stein“, spricht die Frau von vorhin sie an.

      Anna muss sich sammeln, bevor sie antwortet.

      „Das ist nett von Ihnen. Aber ich möchte noch etwas hierbleiben. Ich gehe fast jeden Tag den Weg und werde schon aufpassen. Vielen Dank.“

      „Dann noch einen schönen Tag und vielleicht bis ein anderes Mal.“

      „Ja, Ihnen auch einen schönen Tag.“

      Anna vernimmt, wie die Kinder und mehrere Frauen sich entfernen.

      Sie ist jetzt allein und kann die Stille und die Geräusche der Natur um sie herum genießen.

      Die Ruhe und Idylle wird nur gestört, wenn ein Flugzeug tief über den Baumwipfeln den See überquert und zur Landung auf dem nahen Köln-Bonner Flughafen ansetzt.

      Anna hört nicht nur das Dröhnen der Triebwerke, sie stellt sich dann auch das Bild des Flugzeuges am wolkenlosen, blauen Himmel vor. Sie kennt das aus früheren Zeiten.

      Sehen kann sie das seit ihrem Autounfall von vor mehr als zwei Jahren nicht mehr.

      Sie ist vollständig blind!

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      Nach dem fürchterlichen Unfall im Juli vor zwei Jahren auf der Autobahn in Frankreich musste Anna noch an der Unfallstelle von den Rettungssanitätern reanimiert werden. Ein Hubschrauber brachte sie ins nächste Unfallkrankenhaus, wo nochmals eine Reanimation erforderlich war. Sie hatte lebensgefährliche Verletzungen. Der stark alkoholisierte Geisterfahrer, mit dem sie frontal zusammengestoßen waren, wurde tödlich verletzt und verstarb noch an der Unfallstelle. Ihr Freund Tobias hatte Glück im Unglück. Er kam mit einigen Rippenbrüchen, einem Armbruch sowie mit starken Prellungen davon. Verhältnismäßig schnell war seine Gesundheit wiederhergestellt.

      Bei Anna stellte man im Krankenhaus schwerste Schädelverletzungen und Gehirnblutungen fest. Es stand lange auf des Messers Schneide, ob sie überhaupt überleben würde und falls, wie würde dieses Überleben aussehen? Nach mehreren Operationen verbrachte sie lange Zeit auf der Intensivstation im künstlichen Koma.

      Als sie erwachte, verlegte man sie in eine Spezialklinik für Augenheilkunde. Nach gründlichen Untersuchungen dann der Schock: Die Ärzte eröffneten ihr, dass eine Wiederherstellung ihres Augenlichtes nicht mehr möglich sei. Sie sei auf beiden Augen irreversibel erblindet. Bei dem Unfall waren mehrere Risse im Knochen bei den Sehnerven beider Augen aufgetreten. Bei der Heilung entstanden Verdickungen am Knochen, die die Sehnerven abdrückten.

      Obschon beide Augen medizinisch gesund waren, würde sie für den Rest ihres Lebens blind sein. Rest ihres Lebens? Anna konnte und wollte die Aussage der Ärzte nicht verstehen. Sie war doch noch so jung und der größte Teil ihres Lebens sollte doch noch vor ihr liegen.

      Eine niederschmetternde, hoffnungslose Prognose für sie.

      Das Auge ist für viele Menschen das wichtigste Sinnesorgan. In der heute in einem riesigen Maße visuell ausgerichteten Welt, werden wahrscheinlich mehr als zwei Drittel der Informationen durch das Sehen aufgenommen. Mit der Tatsache, künftig auf viele Informationen verzichten zu müssen und die Menschen und ihre Umgebung für den Rest ihres Lebens nur noch durch Ertasten oder durch Geräusche wahrnehmen zu können, konnte sie sich nicht abfinden.

      Täglich haderte sie mit ihrem Schicksal. Weinkrämpfe erschütterten sie und wechselten sich mit depressiver Niedergeschlagenheit ab. Immer wieder fragte sie sich, wie sie weiterleben soll – und ob sie überhaupt in diesem Zustand weiterleben kann.

      Ihr Freund Tobias lebte nach wie vor bei ihr und wurde von ihr finanziell unterhalten. Er versorgte und unterstützte sie, soweit er konnte. Psychologisch war er allerdings nur bedingt in der Lage, ihr zu helfen.

      Durch die Leistungen der Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers und ihrer privaten Unfallversicherung hatte sie keine finanziellen Probleme. Ihr Freund schaffte alles herbei, was auf irgendeine Weise für seine Freundin und für ihn eine Hilfe darstellte. Der Preis spielte dabei keine Rolle.

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      Eines Tages, als Tobias Anna wieder einmal fragte, wie es ihr ginge und ob er ihr helfen könne, rastete sie völlig aus.

      „Du hast doch überhaupt keine Ahnung, wie es um mich steht und wie ich mich fühle!“, schrie sie wütend.

      „Wie sollst du auch? Du bist nicht blind – du kannst ja sehen“, fügte sie fast entschuldigend hinzu.

      „Für dich ist Sehen normal, wie es für mich bis zu dem Unfall ebenfalls war. Erst jetzt, wo ich nicht mehr sehen kann, habe ich erkannt, wie schön unsere Welt ist und dass ich diese Schönheit nie mehr genießen kann. Ich bin in dieser verdammten Dunkelheit für ewig gefangen!“

      Anna ließ sich in einen Sessel fallen. Noch nie hatte sie in solch einer Klarheit und Offenheit zu ihm gesprochen. Tobias stand, von ihr abgewandt, vor der Balkontür und starrte mit leerem Blick hinaus. Er konnte sie nicht trösten, er war zu keinem Wort fähig.

      „Doch halt. Pass‘ einmal genau auf. Wir machen ein Experiment. Nimm dir bitte eine Augenbinde, einen Schal oder sonst etwas und verbinde dir damit die Augen, sodass du nicht das Geringste sehen kannst. Diese Binde lässt du heute den ganzen Nachmittag um deine Augen. Danach reden wir weiter“, schlug Anna ihrem Freund vor.

      Tobias sah keine Möglichkeit, diesen Vorschlag abzulehnen, wollte er Annas Vertrauen nicht einbüßen. Im Verbandskasten fand er zwei Augenklappen, die er sich über die Augen zog. Er konnte jetzt nicht mehr die Spur eines Lichtes wahrnehmen und war praktisch Anna gleichwertig.

      „Okay, ich bin soweit“, sagte er unsicher.

      „Gut. Jetzt versuche, den heutigen Nachmittag ganz normal zu leben, so wie immer. Nur mit dem Unterschied, dass du nichts siehst. Heute Abend reden wir.“

      „Ganz normal den Nachmittag verbringen, so wie immer? Wie stellst du dir das vor? Wie soll das mit uns beiden funktionieren?“

      „Ich stelle mir das nicht vor. Ich weiß wie das ist. Und du wirst das heute Abend mit Sicherheit ebenfalls wissen.“

      Anfangs war er noch guten Mutes, obschon er sich bereits bei den ersten Schritten sein Knie an der Tischkante des Wohnzimmertisches stieß.

      Anna saß währenddessen im Sessel und forderte ihn immer wieder zu den verschiedensten Tätigkeiten auf. Im Laufe des Experimentes zog sich Tobias mehrere blaue Flecken zu. Das war für ihn jedoch nicht das Schlimmste. Die totale Finsternis, die Desorientiertheit und das Gefühl der Hilflosigkeit waren wesentlich schlimmer.

      Es dauerte nicht lange und er hob eine Augenklappe an, da er die Finsternis und den Zustand der totalen Behinderung nicht mehr ertragen konnte.

      Ja, es muss schrecklich sein, was Anna durchmacht, dachte er. Er konnte jetzt in etwa einschätzen, was sie fühlte und weswegen sie so deprimiert war und ihr Leben als eine Qual ansah.

      Nach wenigen Stunden nahm er sich die Augenklappen endgültig ab. Danach sprach er mit Anna noch lange über seine Erfahrung mit der Blindheit und lobte Annas Kraft, wie sie mit dieser Behinderung umging.

      Dieser Selbstversuch war ein einschneidendes Erlebnis für ihn. Er hatte erlebt, wie Anna sich fühlen musste und war schockiert. Ab diesem Tag half er ihr noch tatkräftiger als vorher. Anstatt ihr Mut und Zuversicht zu geben, konnte er ihr aber nur Mitleid entgegenbringen. Das war jedoch die Zuneigung, die Anna gar nicht ertragen konnte. Immer öfter führte das zu Streitigkeiten.

      Er litt mit ihr und war genauso depressiv wie sie. Morgens nach dem Erwachen und


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