Tödliche Dunkelheit. Heribert Weishaupt

Tödliche Dunkelheit - Heribert Weishaupt


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Experiment weder eine Hilfe für Anna, noch für Tobias gewesen.

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      Monate später zog Anna eine Psychologin zu Rate. Sie benötigte jemanden, der ihre Stärken unterstützte und ihre Schwächen ausmerzte. Ihr behandelnder Arzt hatte immer wieder auf sie eingeredet, diesen Schritt zu gehen. Glücklicherweise fand sie eine Psychologin, die durch ihr einfühlsames Wesen Zugang zu ihrer Seele bekam. Im Laufe der Behandlung wurde aus ihrer Beziehung eine innige Freundschaft. Es dauerte trotzdem fast ein Jahr, bis Anna ihre Behinderung akzeptierte und einen Weg in eine positive Zukunft sah.

      „Was soll‘s. Machen wir das Beste daraus“, sagte sie eines Tages zu Tobias.

      Sie begann, systematisch ihre häusliche Umwelt strategisch zu erforschen. Tobias war total überrascht und schaute sie verständnislos an.

      „Wie meinst du das?“, fragte er.

      „Du wirst nicht mehr mein sehendes Auge sein und jeden Handgriff für mich machen. Ich werde selbst für mich sorgen. Ich muss versuchen, auf eigenen Füßen zu stehen.“

      „Was soll das? Hat dir das diese Psychologin eingeredet?“, fragte er abfällig.

      „Nein, das ist meine Entscheidung. Nur wenn mir das gelingt, ist mein Leben weiterhin lebenswert.“

      Beide vereinbarten, dass kein Teil in der Wohnung verrückt oder entfernt werden durfte. Auch kleine Teile, wie eine Vase oder die Fernbedienung der Stereoanlage, sollten ihren festen Platz haben. Nur so war es möglich, dass Anna sich in der Wohnung orientieren konnte.

      Täglich trainierte sie, wie sie im Alltagsleben ihre Selbstständigkeit zurückgewinnen konnte. Ebenso musste sie alle lebenspraktischen Fähigkeiten wie Kochen, Putzen, die Bedienung der Elektrogeräte und vieles mehr neu erlernen.

      Das Erleben ganz neuer Sinneseindrücke und das Schärfen der verbliebenen Sinne, musste ebenfalls immer wieder trainiert werden. Eine hierfür ausgebildete Rehabilitationstrainerin half ihr an drei Tagen in der Woche dabei. Wenn ihr Freund zur Uni fuhr und sie allein war, legte sie zusätzliche Trainingseinheiten ein.

      Tobias bemerkte natürlich den stetigen Fortschritt. Einerseits freute er sich darüber, anderseits machte er sich Gedanken – Gedanken über sich. Wurde er doch mehr und mehr entbehrlich. Er war sich nicht im Klaren, ob er das wollte.

      Nach fast einem halben Jahr war sie in der Lage, sich alleine in der Wohnung zurechtzufinden und die täglichen Arbeiten und Bedürfnisse alleine zu bewältigen.

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      Anna lag bereits im Bett, als Tobias zu ihr unter die Decke schlüpfte. Sie wandte ihm den Rücken zu.

      „Schläfst du schon?“, fragte er leise.

      „Nein, ich denke nach“, antwortete Anna und drehte sich zu ihm um.

      Normalerweise trug Anna tagsüber immer eine tiefschwarze Sonnenbrille und im Bett eine Augenbinde. Es wäre ihr peinlich, wenn Menschen und besonders ihr Freund ihre Augen sehen würden. Heute Abend war sie verstimmt und nach längerer Zeit beschäftigten sie wieder einmal depressive Gedanken. Dabei hatte sie vergessen, ihre Augenbinde umzubinden.

      Zwei ausdruckslose, trübe Augen starrten Tobias an. Er erschrak. Gerade ihre ausdrucksvollen Augen, die die Farbe des hellblauen Himmels hatten, liebte Tobias so sehr an ihr. Nichts davon war geblieben. Er war entsetzt.

      „Gute Nacht. Mach dir keine Gedanken. Versuche zu schlafen“, war alles, was er ihr mit erstickter Stimme sagen konnte.

      Schnell drehte er ihr den Rücken zu und stellte sich nach kurzer Zeit schlafend. Tatsächlich konnte er lange nicht einschlafen. Er dachte über Anna, vor allem aber über sich selbst nach. Was war von seiner Liebe geblieben?

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      Als nächsten Schritt plante Anna, sich in der näheren Umgebung außerhalb ihrer Wohnung zu bewegen. Sie wohnte in einem der eng aneinandergereihten kleinen Reihenhäuser, der sogenannten Maikammersiedlung in Troisdorf. Die Häuser entstanden in den 1950er Jahren als Zwecksiedlung für die belgischen Soldaten. Nach dem Abzug der Streitkräfte wurden die Häuser seit 2002 nach und nach öffentlich zum Kauf angeboten. Annas Eltern kauften seinerzeit ein Haus, das sie nach einer aufwändigen Sanierung nur wenige Jahre bewohnten. Aus beruflichen Gründen zogen die Eltern nach Regensburg und Anna blieb allein in dem Haus wohnen.

      Anna liebte das kleine Haus und sie schätzte die Nähe zur City und die nur wenige hundert Meter entfernte Wahner Heide.

      Die ersten Schritte ging sie zusammen mit ihrer Rehabilitationstrainerin in Richtung Agger-Stadion, das direkt am Rand der Wahner Heide lag.

      Sie prägte sich jede Besonderheit des Weges, jeden Bordstein, jeden Stein ein. Sie zählte die Schritte bis zum nächsten Bordstein, bis zur Straßenlaterne oder bis zum Straßenschild. Mit der Zeit bildete sich in ihrem Kopf ein imaginäres Bild der Umgebung, in dem sie sich immer besser zurecht fand.

      Anfangs begleitete Tobias sie auf ihren Wegen. Je besser sie mit der Welt außerhalb des Hauses zurechtkam, je weniger musste sie Tobias‘ Hilfe annehmen. Ihm kam das gelegen. Die gleiche Energie aufzubringen, wie Anna sie aufbrachte, war ihm nicht möglich. Er hatte eine andere Wesensart. Er suchte immer den einfachen, den bequemen Weg. Die Blindheit seiner Freundin und die damit verbundenen Belastungen und unsicheren Zukunftsaussichten waren eine Bürde für ihn. Diese Last wollte er und konnte er nicht mehr ertragen.

      Immer öfter traf er sich mit einer Kommilitonin. Ihr hatte er sich mit seinen Problemen anvertraut. Anfangs suchte er nur das Gespräch mit ihr. Mit der Zeit wurde mehr daraus und er genoss das unbeschwerte Zusammensein mit ihr.

      Die Kluft zu Anna wurde immer größer und es war nur eine Frage der Zeit, bis er Anna den entstandenen Bruch nicht mehr verheimlichen konnte.

      Anna hatte währenddessen ihren Weg zur unabhängigen Selbstständigkeit immer weiter intensiviert.

      Unausweichlich kam dann der Tag, der Annas Pläne jäh beendete und ihre Psyche bis ins Mark traf – Tobias trennte sich von ihr.

      „Ich kann nicht mehr. Das Leben mit dir macht mich kaputt“, eröffnete er ihr eines Tages während des Frühstücks.

      Anna traf diese Aussage am frühen Morgen völlig unvorbereitet. Ein Schock war es dennoch nicht. Dafür kam die Aussage ihres Freundes nicht überraschend genug. Seit einiger Zeit hatte sie damit gerechnet, obschon sie die Möglichkeit immer weit von sich geschoben hatte. Bei gemeinsamen Autofahrten hatte sie im Wageninneren einen ihr unbekannten Duft wahrgenommen. Mit Fragen hatte sie ihren Freund nicht konfrontiert – sie hatte Angst vor der Wahrheit und vor der Antwort, die er ihr geben würde.

      „Gib es doch zu. Du hast eine andere Frau. Ich kann sogar verstehen, dass du dein Leben nicht mit einer blinden Frau und deren Problemen verbringen willst“, antwortete Anna resignierend.

      „Ja, aber versteh‘ doch …“, begann Tobias den Versuch einer Erklärung.

      „Geh nur, ich komme auch ohne dich zurecht“, unterbrach ihn Anna, drehte sich um und verließ, so schnell es ihre Blindheit erlaubte, die Küche.

      Schnell, viel zu schnell, so dass Anna keine Chance mehr hatte, ihn vielleicht doch noch zum Bleiben zu überreden, packte er seine wenigen Sachen und Kleidungsstücke sowie sein Fernsehgerät und verschwand noch am gleichen Morgen.

      Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, hörte Anna, wie sich der bekannte Klang seines Wagens entfernte – für immer.

      „Verflucht“, war das einzige Wort, das sie hervorbrachte.

      Dann sank sie völlig erschöpft und deprimiert auf ihr Bett. Von stundenlangen Weinkrämpfen geschüttelt, überkam sie der Schlaf wie eine schützende Decke.

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