Tödliche Dunkelheit. Heribert Weishaupt

Tödliche Dunkelheit - Heribert Weishaupt


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Anna heiter.

      „Sie haben ja recht. Die Sonne scheint noch so angenehm warm und es wäre schade, in der Wohnung zu sitzen“, sagt sie freudig zu dem unbekannten Fremden neben ihr.

      „Sie kommen oft hierher“, sagt der Mann, mehr als Feststellung denn als Frage.

      „Ich habe Sie bereits mehrmals hier gesehen. Ich komme aus der Stadt und spaziere hin und wieder hier am See vorbei und dann durch die Heide zurück“, fügt er als Erklärung hinzu.

      „Das ist recht ungewöhnlich, dass ein junger Mann allein durch den Wald und durch die Heide spaziert“, entgegnet Anna.

      „Das mag sein, aber dadurch komme ich an die frische Luft und kann von meiner Arbeit ein wenig entspannen. Wie kommen Sie darauf, dass ich jung bin?“

      „Ihre Stimme klingt noch so jung“, sagt Anna und der Fremde scheint diese Erklärung zu akzeptieren, ohne ihr jedoch ausdrücklich zuzustimmen.

      „Darf ich Sie fragen, was Sie beruflich machen?“

      „Na klar. Das ist kein Geheimnis. Ich bin selbstständig und bin in der Computerbranche tätig. Hauptsächlich berate und unterstütze ich kleinere und mittlere Firmen bei Hard- und Softwareproblemen. Ich sage Ihnen, wenn Sie den ganzen Tag vor einem Bildschirm sitzen, freuen Sie sich über jede Minute in der freien Natur.“

      „Das kann ich mir vorstellen. Dann wohnen Sie sicherlich direkt in der Stadt, von wo Sie es nicht weit bis hierhin haben?“

      Anna ist neugierig geworden. Sie will mehr von dem unbekannten Fremden mit der freundlichen Stimme erfahren.

      „Ja, … direkt in der Stadt habe ich eine schöne Wohnung. Nur der Wald und der See fehlen mir dort.“

      Anna bemerkt das Zögern in der Antwort. Sie will nicht weiter fragen. Manchmal können zu viele Fragen unangenehm sein. Auch der Mann sagt nichts mehr.

      Nach einer kurzen Pause nimmt der Mann das Gespräch wieder auf.

      „Darf ich Sie auch etwas fragen?“

      „Nur zu, wenn es nicht gerade zu intim ist.“

      „Ich weiß nicht. Ich wollte Sie fragen, ob Sie von Geburt an blind sind oder ob sie später im Leben erblindet sind?“

      Anna antwortet nicht sofort. Sie geht im Allgemeinen offen mit ihrer Behinderung um, aber heute mag sie nicht darüber sprechen. Daher antwortet sie nur kurz und etwas schroffer, als sie eigentlich will.

      „Ein Unfall, ein Autounfall. Vor einigen Jahren.“

      Der Mann versteht, dass Anna nicht darüber reden möchte und wechselt das Thema.

      „Und noch eine Frage. Bestimmt nicht intim. Welche Musik mögen Sie?“

      Anna ist erleichtert, dass er nicht nach ihrer kurzen Antwort aufsteht und geht, sondern weiter mit ihr reden will.

      Es entwickelt sich ein angeregtes Gespräch über Popmusik und deren Interpreten. Anna und der junge Mann scheinen den gleichen Musikgeschmack zu haben.

      Anna ist froh, nicht sofort nach Hause gegangen zu sein, denn die Unterhaltung mit dem Fremden tut ihr gut. Der Mann mit der freundlichen Stimme ist ihr auf Anhieb sympathisch.

      Als sie einige Zeit später aufsteht und sich verabschiedet, meint der Fremde:

      „Vielleicht sehen … Entschuldigung, treffen wir uns an einem der nächsten Tage ja wieder auf dieser Bank. Darf ich Ihnen behilflich sein und Sie nach Hause begleiten?“

      „Nein, danke, ich gehe den Weg täglich und die Strecke ist mir vertraut. Vielleicht treffen wir uns ja tatsächlich irgendwann noch einmal hier. Ich würde mich freuen.“

      Ruhigen Schrittes ertastet sich Anna mit dem Blindenstock den Weg zurück in Richtung ihrer Wohnung. Als sie vom Waldweg auf den asphaltierten Bürgersteig einbiegt, meint sie, Schritte im gleichen langsamen Tempo wie ihr eigenes hinter sich zu hören. Sie misst dem jedoch keine Bedeutung bei.

      Sie ärgert sich ein wenig, dass sie den Mann nicht nach seinem Namen gefragt hat. Sollten sie sich noch einmal treffen, würde sie es schön finden, ihn mit Namen anreden zu können.

      Aber was soll‘s, er hat auch nicht nach meinem Namen gefragt, denkt sie.

       7

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      Der Klinikleiter der Tagesklinik ist in Rage.

      „Herr Grosse, was wollen Sie mir eigentlich sagen? Zuerst behaupten Sie, David Winter befinde sich nicht in seinem Zimmer, dann sagen Sie, dass er nun doch dort ist. Was soll das?“, regt er sich auf.

      Dr. Hermann Renger ist Facharzt für Psychotherapie und Psychiatrie und seit zehn Jahren Leiter der Tagesklinik. Er ist schlecht gelaunt, wie so oft montags. Das freie Wochenende mit seinen beiden pubertären Töchtern hat ihn wieder einmal genervt.

      Alexander Grosse, der bereits seit vielen Jahren in der Klinik als Sozialarbeiter tätig ist, steht vor seinem Schreibtisch und knetet nervös seine Hände. Das Unverständnis des Klinikleiters lässt seine Wangen erröten, was ihm äußerst unangenehm ist.

      „Aber Herr Doktor, ich möchte doch nur bemerken, dass David heute Morgen mehrere Stunden nicht in seinem Zimmer war und niemand über seinen Aufenthalt Bescheid wusste. Gestern hat er sein Zimmer bezogen und heute Morgen war er mehrere Stunden spurlos verschwunden. Das geht doch nicht.“

      Der Sozialarbeiter ist empört und versucht gar nicht erst, dies vor dem Klinikleiter zu verbergen.

      „Aber jetzt ist er doch da, oder?“, fragt Dr. Renger genervt. „Heute beginnt doch die Milieutherapie, an der er teilnehmen soll. Die erste gemeinsame Besprechung mit allen Teilnehmern ist nach dem Mittagessen angesetzt. Da Sie ihn seinerzeit überzeugt haben an der Therapie teilzunehmen, dachte ich mir, es wäre vielleicht ratsam, dass Sie einmal vorher mit ihm sprechen“, verteidigt sich der Sozialarbeiter.

      Alexander Grosse leistet immer gewissenhaft seine Arbeit und solch ein eigenmächtiges Handeln eines Patienten will er nicht ohne Weiteres hinnehmen. Er hat den Eindruck, dass er wieder einmal das Gespräch mit dem Patienten und damit die unangenehme Arbeit übernehmen soll. Von seinem Vorgesetzten scheint er kein Verständnis und keine Hilfe erwarten zu können.

      „Soll ich mit David über den Vorfall sprechen?“, bietet er sich dennoch verärgert an.

      „Lassen Sie es gut sein, er ist jetzt da und damit hat es sich. Aber wenn Sie wollen, sprechen Sie mit ihm und sagen Sie ihm, dass so etwas künftig nicht mehr vorkommen darf.“

      Mit einer für ihn typischen Handbewegung, die seinen Unmut darstellen soll, beendet der Klinikleiter das Gespräch.

      Resigniert verlässt Sozialarbeiter Grosse das Büro seines Vorgesetzten.

      Die personelle Situation in der Tagesklinik ist wie in fast allen Kliniken. Zu wenig Personal – und das Personal, das Dienst hat, ist überfordert. Unregelmäßigkeiten zu hinterfragen, bedeutet zusätzliche Arbeit – und die will niemand. Auch der Klinikleiter nicht.

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      David Winter hat Anna beim Treffen am See angelogen. Er ist weder selbstständig in der Computerbranche, noch unterstützt er Firmen bei Computerproblemen. Auch hat er keine schöne, eigene Wohnung direkt in der Stadt. Er wohnt in einem Mehrfamilienhaus am Ortsausgang von Troisdorf in Richtung Siegburg. Dort teilt er sich mit einem anderen jungen Mann im Rahmen einer Wohngemeinschaft eine Wohnung. Zwei Zimmer und Küche – 45 Quadratmeter, mehr nicht.

      Als er noch nicht Patient der Tagesklinik war, hatte er einen Ganztagsjob in einem kleinen Computerladen, wo er hauptsächlich Hardware reparierte und Softwareprobleme behob. Sein Chef hatte Davids exzellente Softwarekenntnisse frühzeitig erkannt und schätzte seine Arbeit. Seitdem


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