Tödliche Dunkelheit. Heribert Weishaupt

Tödliche Dunkelheit - Heribert Weishaupt


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sie sich mit Sicherheit fürchterlich erschrocken. Blass, rot verquollene Augen – ein jammervoller Anblick. Aber zum Glück konnte sie sich nicht im Spiegel betrachten.

      Sie blieb den ganzen Tag im Bett – und auch den nächsten. Tränen hatte sie keine mehr. Ihre Nahrung bestand hauptsächlich aus einigen Joghurts, womit sie ihren Körper nicht gerade verwöhnte und stärkte. Auch erfreute sich ihre Haut nicht über Wasser und Seife. Ihre Flüssigkeitsaufnahme bestand hauptsächlich aus Rotwein. Der Alkohol ließ sie willenlos vor sich hindämmern. Tag und Nacht waren für sie gleich. Einen tiefen und festen Schlaf fand sie nicht. Wenn sie dann einmal für kurze Zeit einschlief, plagten sie Albträume.

      Anna versteckte sich vor sich selbst. Sie fühlte sich als ein Nichts in dieser Welt und von keinem geliebt.

      Nachdem ihre Vorräte an Rotwein aufgebraucht waren, nahm ihr Verstand langsam wieder seine normale Tätigkeit auf.

      Nach der schlaflosen Nacht zum dritten Tag beschloss sie, ihr Schicksal wieder in die Hand zu nehmen. Und das sofort.

      Als Erstes öffnete sie alle Fenster. Sie genoss es, wie die verbrauchte, übel riechende Luft aus den Räumen entwich. Die frische Luft wehte ihr um die Nase und hauchte ihr neues Lebenselixier ein. Dann begann sie, ihre Wohnung abzutasten und alle leeren Flaschen, Becher und sonstigen Unrat aufzusammeln.

      Im Küchenschrank fand sie einige Happen altes Brot, die sie mit Heißhunger verschlang. Dazu trank sie mehrere Tassen starken Kaffee.

      Ihre sprechende Blindenuhr sagte ihr, dass es 8:30 Uhr war. Sie setzte sich ins Wohnzimmer und nahm ihr Telefon zur Hand. Ihre Eltern anrufen, die in Regensburg über fünfhundert Kilometer entfernt lebten, wollte sie nicht. Ihre Mutter oder sogar beide Elternteile würden sicherlich sofort kommen, wenn sie ihnen erzählen würde, dass Tobias sie verlassen hatte und sie jetzt allein war. Aber in ihrem jetzigen Zustand sollten sie ihre Tochter nicht sehen. Ihr Vater würde sicherlich ihr ganzes Leben und ihre Zukunft an sich reißen. Auf Jahre hinaus hätte sie keinen eigenen Willen mehr. Nein, das war keine Option. Sie wollte selbst ihr Leben neu ordnen. Dazu benötigte sie professionelle Hilfe.

      Daher rief sie als Erstes ihre Freundin, die Psychologin, an, die sie am Nachmittag sofort aufsuchte. Gemeinsam überlegten sie, welche Schritte es als nächstes zu tun galt.

      Die Psychologin wusste, wo sie bei Anna ansetzen musste. Durch viele, und zum Teil lange Gespräche in den folgenden Wochen, gelang es ihr, Annas depressiven Zustand in verhaltenen Optimismus zu ändern. Auch ihre Lebens- und Versagensängste ließen nach. Annas psychischer Zustand verbesserte sich immer mehr.

      Jetzt war die Zeit gekommen, durch weitere professionelle Hilfe diesen Aufwärtstrend zu untermauern. Dazu benötigte sie Zeit – Zeit für sich selbst. Wenn sie andere über Zeitnot reden hörte, fühlte sie sich wie im falschen Film. Seit Tobias sie verlassen hatte, hatte sie mehr Zeit, als ihr lieb war. Sie war fest entschlossen, diese Zeit zu nutzen. Sie wollte nicht nur am Leben teilhaben, sie wollte ihr Leben gestalten und genießen. Trotz oder gerade wegen ihrer Behinderung.

      Glücklicherweise hatte sie durch die Zahlungen der Versicherungen die hierzu notwendigen finanziellen Möglichkeiten. Über karitative Einrichtungen regelte sie die täglichen Arbeiten, wie Säubern der Wohnung, Besorgungen erledigen und Waschen der Wäsche.

      Eine Blindenschule übernahm ihr Training, damit sie immer mehr lernte, sich außerhalb der Wohnung zu bewegen. Auch musste sie lernen, in Kontakt zu ihren Mitmenschen zu treten. Die Psychologin half ihr dabei, den Mut zu finden, allein den Schritt heraus aus ihrer heimischen Umgebung zu wagen und Menschen anzusprechen und gegebenenfalls um Hilfe zu bitten.

      All die Geräusche, die früher selbstverständlich für sie gewesen waren, die sie gar nicht wahrgenommen hatte, stellten jetzt eine Bedrohung für sie dar. Der Autolärm, die vorbeihastenden Menschen, Schreie der Kinder oder die Hektik im Supermarkt machten ihr Angst.

      Sie war noch nicht darauf eingestellt, dass jetzt die verbliebenen Sinne die Aufgaben des fehlenden Augenlichtes übernehmen mussten. Nur tägliches, hartes Training konnte helfen.

      Diszipliniert führte sie dieses Training durch. Wenn sie allein war, ging sie manchmal zur Haustür. Bis dort fühlte sie sich sicher. Sie stellte sich dann neben die Tür und sog die Geräusche wie ein Schwamm in sich auf, sodass sie sich immer mehr daran gewöhnte. Der Radius, in dem sie sich bewegte, wuchs ständig.

      Nach fast einem weiteren, anstrengenden und aufregenden Jahr konnte sie sich selbstständig und sicher außerhalb der Wohnung bewegen. Auch war sie durch die Betreuung ihrer Freundin, der Psychologin, inzwischen psychisch so stabil, dass sie allein für ihr Leben sorgen und inzwischen dieses auch immer öfter wieder genießen konnte.

       6

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      Die Mütter mit ihren Kindern sind gegangen. Es ist still am See. Vor ihrem Unfall, als sie noch sehen konnte und die Welt noch in Ordnung war, spazierte Anna mit Tobias oft durch den Wald zum See. Jetzt empfindet sie den Wald und den See anders. Nicht, dass ihr Tobias fehlt, nein das ist es nicht. Die Geräusche des Waldes, des Sees und der Tiere verspürt sie jetzt viel intensiver. Sie verbindet die Geräusche der Natur und die Laute der Tiere mit Bildern, die sie früher gesehen und so sehr geliebt hat. Die Enten auf dem Wasser, das Schwanenpaar, das sanft über das Wasser gleitet, die unbewegliche Statue des Fischreihers auf der anderen Seite des Sees und der Sonneneinfall, der durch die hohen Bäume gebrochen wird.

      Anna hört ein Piepsen in hohen Tönen. Wahrscheinlich eine Maus, denkt sie. Sie wundert sich, dass sie jetzt sogar diese Töne hören kann. Früher hätte sie diesen Tönen keine Beachtung geschenkt und hätte sie nicht einmal wahrgenommen. Seitdem sie blind ist, hat sich ihr Gehör anscheinend wesentlich verbessert. Sie freut sich über diesen Fortschritt.

      Der tägliche Spaziergang, so wie heute, fast immer zur gleichen Zeit, ist eines ihrer vielen, eingeübten Rituale. Diesen Platz hier am Ufer des Sees liebt sie besonders.

      Bestimmt hat jeder bereits einmal festgestellt, wenn man einen Menschen von hinten intensiv ansieht, dreht sich dieser mit einem Male um, als ob er den stechenden Blick in seinem Rücken gespürt hat.

      Anna hat diese Erfahrung häufig gemacht. Oft drehen sich Passanten nach der hübschen, jungen Frau mit der dunklen Sonnenbrille um. Mitleid ist dann in vielen Gesichtern zu erkennen, wenn sie sehen, wie Anna sich den Weg mit dem Blindenstock ertastet. Sie ist sich dessen bewusst. Zu Beginn ihrer Blindheit spürte sie diese Blicke in ihrem Rücken. Im Laufe der Zeit verkümmerte die Sensibilität dafür und inzwischen ist ihr dieses Gefühl gänzlich verloren gegangen.

      Daher spürt sie auch nicht die Blicke des jungen Mannes, dessen Gesicht zwischen den Zweigen eines Gebüschs heraus auf sie gerichtet ist. Der Mann beobachtet Anna intensiv und lautlos. An beinahe allen Tagen, wenn Anna diesen Platz zur Rast wählt, ist auch das Gesicht zwischen den Zweigen bereits dort. Der Mann scheint Anna zu erwarten. Wenn sie den Heimweg antritt, verlässt auch er sein Versteck und entfernt sich in die andere Richtung.

      Anna bemerkt das nicht – wie soll sie auch.

      Bisher hat er sie noch nie angesprochen oder sich zu erkennen gegeben. Bis heute.

      „Guten Tag, darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragt eine junge, freundliche Männerstimme.

      Anna, die gerade den Heimweg antreten will, erhebt sich und sagt: „Selbstverständlich können Sie sich hier setzen, für mich wird es Zeit zu gehen.“

      „Ich möchte Sie nicht verjagen. Bleiben Sie doch noch. Schauen Sie, keine Wolke ist am Himmel und der Tag ist doch viel zu schön, um nach Hause zu gehen“, sagt der Fremde und setzte sich auf die Parkbank.

      Anna, die nicht oft mit Menschen redet, nimmt diese Gelegenheit gerne wahr. Sie setzt sich wieder hin, in der Hoffnung auf einige, nette Minuten unverbindlicher Kommunikation.

      In dem Moment scheint der Mann Annas Blindenstock zu bemerken und bedauert seinen vorherigen unbedachten Satz.


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