Tödliche Dunkelheit. Heribert Weishaupt

Tödliche Dunkelheit - Heribert Weishaupt


Скачать книгу
und samstags ausüben. Neben fachärztlicher Behandlung und psychologischer Psychotherapie nahm er an einer Reihe anderer Therapien teil. So zum Beispiel Ergo-, Kunst- und Musiktherapie. Diese Therapien wurden im Rahmen der Tagesklinik montags bis freitags in der Regel von neun bis sechzehn Uhr angeboten. In keiner der Therapien fühlte er sich wohl. Die behandelnden Ärzte erachteten daher eine Verlängerung für sinnlos.

      Ab diesem Montag soll er nun an einer Milieutherapie, der sogenannten künstlichen Familie teilnehmen. Einer vorübergehenden Lebensgemeinschaft in der Klinik, die auf drei Wochen befristet ist. In seinem Job kann er während dieser Zeit nicht mehr arbeiten.

      Leiter dieser Therapieform ist der Sozialarbeiter Alexander Grosse. Ihm zur Seite stehen zwei weitere Sozialarbeiter, ein Psychologe, ein Arzt, ein Koch und ein Verwaltungsmitarbeiter der Klinik.

      Die beteiligten Patienten wohnen in dieser Zeit zusammen in der Klinik. Der Tagesablauf ist mit handwerklicher Arbeit, alltäglichen Tätigkeiten wie Kochen und Putzen sowie gemeinsamen Freizeitaktivitäten geregelt.

      Abends sollen wichtige Punkte aus dem täglichen Zusammenleben mit den Betreuern besprochen werden.

      Trotz der strengen Auflagen der Therapie, der alle Teilnehmer ausdrücklich und einheitlich zugestimmt haben, kann David es nicht lassen zum See zu fahren. Mit seinem Fahrrad dauert es nur wenige Minuten, bis er den See erreicht. Er weiß, dass die blinde Frau immer sehr frühzeitig morgens zum See kommt. Er konnte deswegen heute nicht am gemeinsamen Frühstück teilnehmen. Das ist ihm egal. Ihm würde sicherlich eine Ausrede einfallen und falls er eine Ermahnung bekäme, würde ihm das auch nichts ausmachen.

      Heute Morgen am See hatte er gerade seinen Beobachtungsposten eingenommen, als Anna den See erreichte. Er fühlte, wie das Adrenalin in seinen Körper schoss und sich ein unglaubliches Lustgefühl ausbreitete.

      Nur das heimliche Beobachten reichte ihm nicht mehr. Er wünschte sich Kontakt zu dieser Frau. Er musste mehr von ihr sehen. Er wollte sie in ihrer Privatsphäre beobachten. Einer plötzlichen Eingebung folgend, beschloss er, sie heute anzusprechen. Hätte er sich das lange vorher überlegt, wäre er mit Sicherheit viel zu aufgeregt gewesen. So hatte er sich spontan zu diesem Schritt entschlossen – und er hatte es geschafft. Es war einfach herrlich. So nah, direkt neben der Frau zu sitzen, ihren Körper zu betrachten, ihren Atem zu spüren. Und dieses überwältigende Gefühl will man ihm in der Klinik abgewöhnen.

      Der Arzt hat ihm erklärt, dass es sich bei ihm um einen krankhaften Voyeurismus handelt, der behandelt werden muss. Er hat den Arzt verstanden und einer Behandlung zugestimmt. Ihm ist klar, es ist wie eine Sucht. Zeit seines Lebens hat er dieses starke Gefühl immer wieder gesucht, immer öfter, immer bei anderen und unterschiedlichen Frauen. Es gab Zeiten, da war er völlig desorientiert, nur vom Gefühl gesteuert. Er konnte sich auf nichts anderes mehr konzentrieren.

      Seitdem er die Tagesklinik besucht, hat sich sein Zustand gebessert. Er ist stabiler geworden. Er ist in der Lage, seine Gefühle zu kontrollieren. Auch auf seine Arbeit im Computerladen kann er sich wieder freuen und konzentrieren.

      Doch jetzt, seitdem er dieser blinden Frau begegnet ist, ist alles fast wie früher. Er dreht sich wieder wie ein Hamster im Rad, aus dem er nicht mehr herauskommt. Er will, nein, er muss diese Frau beobachten. Muss ihr heimlich näher kommen, muss in ihre Intimität eindringen. Er kann sich nicht dagegen wehren.

image

      Der erste Tag der Therapie ist zu Ende. David liegt im Bett und starrt zur Zimmerdecke hoch. Sein Zimmer in der Klink befindet sich zur Straßenseite. Er hat die Vorhänge am Fenster nicht zugezogen und einen Fensterflügel geöffnet. Von außen dringen das Licht der Straßenlaternen und der Motorenlärm der vorbeifahrenden Autos ins Zimmer.

      In der Vorbesprechung der Therapie hatte er sich das Zimmer ausgesucht. Die wenigen Zimmer auf der Parkseite sind zwar wesentlich ruhiger, David wollte aber nicht diese Ruhe und vor allem nicht die dort herrschende Dunkelheit. Er hätte sich abgeschoben und verlassen gefühlt.

      In seiner Wohnung in der Stadt teilt er sich das Schlafzimmer mit einem Freund. Alleinsein ist dort fast unmöglich. Ebenso ist es dort fast unmöglich, allein und in Ruhe über sich und über das Leben nachzudenken. Es sei denn, man schafft es, solange wach zu bleiben, bis der Freund eingeschlafen ist. Aber auch in diesen seltenen Fällen unterbindet das Atmen oder Schnarchen des Freundes jeden klaren Gedankengang.

      Nach dem Abendessen hatten alle Patienten mit den Betreuern zum ersten Mal wie geplant zusammengesessen und den vergangenen Tag besprochen. Er musste sich für sein Fernbleiben vom Frühstück vor der Gruppe rechtfertigen. Schnell erfand er eine „Notlüge“ vom angeblich erkrankten Freund, der auf seine Hilfe angewiesen sei und am Ende zollte man ihm für sein soziales Verhalten sogar Respekt und Mitleid gleichzeitig.

      Dieses Verständnis würde ihm künftig sogar die Möglichkeit eröffnen, so oft wie er es wollte, vom Frühstück fernzubleiben. Und er würde oft nicht am Frühstück teilnehmen – so wie es jetzt aussieht, nie. Da ist er sich sicher.

      Welch eine positive Wendung des Schicksals. Erstmals nach längerer Zeit fühlt er sich gut und zufrieden. Er hat ein Zimmer für sich allein. Er hat es geschafft, der Frau am See näherzukommen und er kann, so oft er möchte, die Klinik am frühen Morgen verlassen – dem kranken Freund sei gedankt.

      Alles wendet sich zum Guten, denkt er.

      Das war nicht immer so. Wahrhaftig nicht.

image

      David war bei seiner Geburt ein hübsches Baby mit dichten, pechschwarzen Haaren und einem hübschen Gesicht. Er war nicht unbedingt ein Wunschkind seiner Eltern. Sie hatten bereits einen zehn Jahre alten Sohn. Aber der ungeplante Nachkömmling wurde umhegt und gepflegt. Man kann sagen, seine ersten Jahre waren schöne Jahre – lediglich mit der Einschränkung, dass David sich an diese Zeit natürlich nicht mehr erinnern kann.

      Seine Erinnerungen reichen zurück bis zum Beginn seiner Schulzeit. Damals stritten sich seine Eltern häufig. Oft lag er im Bett, hielt sich die Ohren zu, um den lautstarken Streitigkeiten nicht zuhören zu müssen.

      In späteren Jahren bemerkte er bei seiner Mutter öfter blaue Flecken im Gesicht und an den Armen. Auf seine Frage antwortete sie immer lapidar, dass sie sich gestoßen habe. Sein Vater ging irgendwann nicht mehr zur Arbeit. Er saß immer zu Hause, trank Bier und war durchweg schlecht gelaunt. Das war die Zeit, in der David seine Mutter oft nachts weinen und seinen Vater stöhnen und schimpfen hörte. Er war noch zu jung, um alles zu verstehen, was mit seinen Eltern los war. Er begriff lediglich, dass es oft ums Geld ging. Es schien ein chronischer Geldmangel zu Hause zu herrschen von dem das tägliche Bier für seinen Vater nicht betroffen war. Spielsachen erhielt er nur zum Geburtstag oder zu Weihnachten und dann immer nur ein kleines Geschenk, das er sich nie gewünscht hatte – aber er hatte doch so viele Wünsche. Süßigkeiten gab es nie.

      Trotzdem liebte er seine Eltern – auch seinen Vater.

      Als er zwölf war, wurde sein Vater in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen. Seine Mutter besuchte ihren Mann nie und er durfte seinen Vater daher ebenfalls nicht besuchen. Eine Erklärung, weshalb man seinen Vater von der Familie getrennt hatte und wieso er ihn nicht mehr sehen durfte, erhielt er nicht. Seine Mutter bemühte sich zwar, den Vater zu ersetzen, trotzdem war sie in Davids Augen die Schuldige für den Zerfall der Familie.

      Erst viele Jahre später erfuhr er durch einen Zufall, dass sein Vater bereits vor Jahren in der Klinik Suizid begangen hatte.

      Das Zusammenleben mit seiner Mutter gestaltete sich zunehmend schwieriger. Immer häufiger wechselte seine Mutter ihre Männerbekanntschaften. Er begann, sie dafür zu verabscheuen.

      „Wie kann sie nur Vater so betrügen und so einfach vergessen?“, fragte er sich immer wieder.

      Mit seinem zehn Jahre älteren Bruder konnte er nicht über seine Probleme sprechen. In dieser Zeit, in der David ihn gebraucht hätte, hatten die Brüder nur wenig Kontakt zueinander. Zu groß war der Altersunterschied.


Скачать книгу