Tödliche Dunkelheit. Heribert Weishaupt
Zimmertür, was an sich schon ungewöhnlich war und sein Bruder kam herein.
David war so überrascht, dass er sofort hochsprang und sich im Bett aufsetzte. Er schaute seinen Bruder erwartungsvoll mit großen Augen an, ohne ein Wort zu sagen oder eine Frage zu stellen. Sein Bruder setzte sich zu ihm aufs Bett. Er schaute zu Boden und David schaute auf seine Bettdecke. Keiner der beiden sprach ein Wort, als müssten beide einen Kampf austragen, wer als Erster das Schweigen bricht.
„Ich haue hier ab.“
„Wieso?“, fragte David.
„Ich halte es einfach nicht mehr aus.“
„Aber du kannst mich doch nicht allein lassen.“
„Du kommst schon zurecht. Mutter sorgt schon für dich. Außerdem wirst auch du älter und eines Tages …“
„Nein, das darfst du nicht“, unterbrach ihn David, drehte sein Gesicht ins Kopfkissen und begann lautlos zu schluchzen.
„Okay, machen wir ein Spiel.“
David hob seinen Kopf aus dem Kissen und schaute zu, wie sein Bruder ein Kartenspiel aus der Tasche zog. David hatte das Kartenspiel schon oft bei ihm gesehen. Er schien es immer bei sich zu haben.
Die Karten ordnete er wie einen Fächer und hielt sie David mit der Rückseite nach oben hin.
„Du ziehst eine Karte und ich ziehe eine Karte. Wenn du die höhere Karte ziehst, bleibe ich. Wenn ich die höhere Karte ziehe, haue ich ab. Einverstanden?“
„Einverstanden!“
David fuhr unschlüssig, welche Karte er ziehen sollte, mit der Hand über die Karten. Dann fassten seine Finger zu und er zog eine Karte aus dem Fächer. Er drehte sie langsam um. Eine Dame. Er strahlte, denn er wusste, es gab nur zwei Karten mit einem höheren Wert. Der König und das As. Seine Chancen standen gut.
Mit Spannung verfolgte er, wie sein Bruder ohne lange zu überlegen zugriff. Ohne zu zögern drehte er die Karte um – ein As.
„Pech gehabt kleiner Bruder.“
„Ja.“
David ließ die Arme resigniert auf das Bettlaken sinken.
„Wann gehst du?“
„Morgen.“
Mehr Worte wurden nicht gesprochen. Wozu auch. Das Schicksal hatte entschieden. David schaute seinem Bruder hinterher, als dieser das Zimmer verließ. Als er die Tür zuzog, meinte David, ein leises „mach‘s gut“ gehört zu haben.
„Du auch“, flüsterte er.
Am nächsten Tag, als David aus der Schule nach Hause kam, war sein Bruder nicht mehr da.
Seine Mutter sagte ihm nur kurz, dass sein Bruder sie verlassen hatte. David fragte nicht weiter. Er hatte das Spiel verloren, Schicksal eben. Und gegen das Schicksal hatte er schlechte Karten gehabt.
Jahrelang hörte David von ihm nichts mehr. Seine Mutter sagte einmal zu ihm, dass er seinen Bruder vergessen solle. Er wäre total introvertiert und würde sich sowieso nicht für ihn interessieren und nur in seiner eigenen Welt leben. Damals verstand David nicht, was introvertiert bedeutet, glaubte aber verstanden zu haben, was seine Mutter meinte. Für ihn trug seine Mutter nicht nur die Schuld an der Trennung von seinem Vater, sondern auch am Weggang seines Bruders.
David war seitdem allein mit seinen Problemen und die Abscheu seiner Mutter gegenüber entwickelte sich langsam aber stetig zu einem Hassgefühl.
„Ich bekomme heute Abend Besuch. Bernd kommt vorbei. Du gehst rechtzeitig ins Bett“, eröffnete seine Mutter ihm eines Tages, als er gerade dreizehn Jahre alt war. Bernd kam sehr früh. Zur Begrüßung tätschelte er mit aufgesetzter Freundlichkeit Davids Kopf. Seine Mutter verlor keine Zeit, ihn in sein Zimmer zu drängen. Der Ärger über die für ihn unverständliche Abschiebe ins Bett und der vehement aufkommende Hass gegen seine Mutter ließen ihn nicht einschlafen.
Nach einiger Zeit vernahm er bekannte Geräusche, die aus dem Schlafzimmer seiner Mutter zu kommen schienen. Es waren die gleichen Geräusche, die er früher vernommen hatte, wenn sein Vater Bier getrunken hatte und er im Bett lag und sich die Ohren zuhielt. Er hörte wieder dieses Stöhnen. Doch seine Mutter weinte im Gegensatz zu früher nicht. Er hörte ihre helle Stimme lachen. Auch schimpfte dieser Mann, den sie Bernd nannte, nicht mit ihr.
Vorsichtig stieg er aus seinem Bett und schlich auf nackten Füßen zum Schlafzimmer seiner Mutter. Die Geräusche wurden lauter. Bernd stöhnte laut, wogegen seine Mutter spitze Schreie ausstieß und Worte zu Bernd sagte, die er nicht kannte, die sich aber obszön und schmutzig anhörten.
Vorsichtig näherte er sich der nur angelehnten Schlafzimmertür. Nein, ein Zurück gab es jetzt für ihn nicht mehr. Er musste wissen, was da drinnen vor sich ging.
Mit spitzen Fingern drückte er gegen die Türe, bis sich ein kleiner Spalt ergab, durch den er ins Zimmer blicken konnte. Was er dort sah, ließ ihm den Atem stocken.
Seine Mutter und Bernd waren nackt. Bernd lag auf dem Rücken. Seine Arme und Beine waren gespreizt und mit Riemen am Bettgestell angebunden. Seine Mutter saß auf Bernd wie auf einem Pferd, den Oberkörper nach vorne gebeugt. Ihre Brüste pendelten schlaff vor dem Gesicht von Bernd hin und her. Beide bewegten sich im Takt auf und ab, wobei seine Mutter mit den Fäusten auf den Brustkorb von Bernd hämmerte, der immer lauter stöhnte. Manchmal hörte es sich an, als wenn er „nein“ stöhnte, dann wieder meinte David ein stöhnendes „ja“ zu vernehmen.
David schlug eine Hand vor den Mund, fuhr herum und lief so schnell er konnte zur Toilette, wo er sich übergab. Dann eilte er wieder zu seinem Zimmer und verkroch sich unter die Decke, bis nichts mehr von ihm zu sehen war. Er hielt sich mit den Händen wie früher beide Ohren zu. Er schluchzte.
„Was macht meine Mutter da drinnen bloß mit Bernd?“, fragte er sich.
„War es das, was Frauen und Männer unter Sex verstehen?“
Er war schockiert. So etwas Ähnliches hatte er schon mal aus Gesprächen der Schüler der höheren Klassen entnommen.
Nun wusste er, dass diese nicht gelogen hatten. Er kannte jetzt die eklige Tatsache. Wie konnte seine Mutter Bernd nur so behandeln. Bernd tat ihm fast leid. Und seine Mutter – die hasste er jetzt noch mehr.
„Verhalten sich alle Frauen so?“, fragte er sich.
„Wenn das der Fall ist, will ich nichts mit Frauen zu tun haben“, entschied er spontan.
In den folgenden Monaten und Jahren brachte seine Mutter immer häufiger verschiedene männliche Besucher mit nach Hause. David stellte fest, dass das Geschehen im Schlafzimmer immer gleich ablief. Er empfand, dass seine Mutter alle ihre Männer quälte und erniedrigte. Eine dauerhafte Beziehung entstand mit keinem der Männer.
Seine Mutter war für ihn das Abbild aller Frauen und durch ihr Verhalten wuchs in ihm eine Abscheu gegen die Frauen im Allgemeinen.
Trotzdem konnte er nicht leugnen, dass ihn im Laufe der nächsten Jahre das Äußere mancher Mädchen magisch anzog und erregte. Er konnte sich dennoch nie überwinden, ein Mädchen anzusprechen oder sogar den Versuch zu unternehmen, eine Freundschaft zu beginnen.
Nun war er auch nicht gerade der Typ, auf den die jungen Frauen flogen. Er wirkte depressiv und hatte daher auf seine Mitmenschen eine negative Ausstrahlung. Es kam ihm vor, als hätten seine depressiven Stimmungen irreversible Schäden in seinem Gesicht hinterlassen, die für alle Mitmenschen sichtbar waren. Es kam sehr selten vor, dass er lachte und seine Zahnlücke zwischen den oberen beiden Schneidezähnen machte ihm das Leben auch nicht leichter. Um es mit einem Wort zu sagen, er war nichtssagend.
In der Schule nahmen ihn seine Mitschüler nicht ernst und trauten ihm nichts zu. Er beteiligte sich fast nie am Unterricht und von den Lehrern wurde er übersehen oder kritisiert, falls er einmal eine Antwort gab.
Er lebte sein junges Leben für sich und entwickelte einen unbändigen Eifer, was die Computertechnik betraf.