Franz Grillparzer. Группа авторов
die kollektive Krise auf die gleiche polyphone, transpersonale Weise reflektiert. Die Bezüge zur Situation um 1848 und die mit der Französischen Revolution aufgeworfenen Fragen sind hier überall gegenwärtig, so auch im kaiserlichen Lager im 2. Akt, wo es nicht nur um die Frage geht, wer im Notstand des Reiches die Führung übernehmen soll, sondern um die Infragestellung aller Hierarchien. Die Verletzung der familiären Hierarchie unter den Habsburgern durch die Wahl Matthias’ zum neuen Staatsoberhaupt ist nicht der einzige ‚Bruderzwist‘ in diesem Stück und wird in diesem Akt beinahe durch das Thema der sozialen Spannungen in den Hintergrund gedrängt. Die Soldaten wagen es, gegen den Befehl ihres Hauptmanns zu argumentieren, weil in diesem Chaos alle Koordinaten sinnvollen Handelns fehlen. Was im Standesdenken nur als Insubordination gesehen werden kann, ist aus der Perspektive der Soldaten eine Frage der Vernunft und der besseren Argumente angesichts der konkreten Probleme: „Hauptmann: ’So meisterst du, ein Knecht, den Heeresfürsten?‘/ / Fahnenträger: ’Ob zehnmal Herr und zwanzigmale Knecht, / Wenn einer irrt, hat doch der andre recht.‘“ (V. 533ff.). Auch der Versuch des Hauptmanns, den Protestanten die Schuld für die bedrängte Lage zu geben, wird schlicht als Lüge abgewiesen und mit dem Schlagwort der Brüderlichkeit ersetzt, die im Lager die konfessionellen Unterschiede verwischt. In diesem Akt wird aber deutlich, dass die Begriffe Bruder und Brüderlichkeit immer durch die Exklusion anderer definiert sind. Im Lager sind alle Brüder – gegen die Türken, geraten aber schnell in einen Streit, wenn es zum Teilen der Beute kommt – in diesem Falle einer Türkin. Und jenseits der Brüderlichkeit im Lager gehören die Lagerbrüder weiterhin unterschiedlichen und potentiell verfeindeten sozialen und konfessionellen Gruppierungen an. Die Beziehung unter den Brüdern vom Geschlecht der Habsburger, Leopold und Ferdinand, sowie Rudolf, Matthias und Max schwankt zwischen Solidarität, Abscheu und Verrat. Diese Zwiespältigkeit der Brüderlichkeit mag den Umstand erklären, dass sowohl Ferdinand und Leopold als auch die Lagerbrüder einander mit der Doppelbezeichnung „Freund und Bruder“ bezeichnen (V. 624 und 1135), die Einigkeit in der Ambivalenz versichernd. In dieser Weise macht Grillparzer die Dynamik von kollektiven Identitäten und politischen Verbänden zum Thema und Problem, statt diese einfach als Spieler im geschichtlichen Konflikt vorauszusetzen. In Bezug auf die Situation um 1848 und weit darüber hinaus hat Grillparzer Rudolf in der Tat ein wahres Wort in den Mund gelegt, wenn er im 3. Akt vor den Sprechern der böhmischen Stände sich über den Begriff des ‚Volkes‘ empört: „Das Volk! Das sind die vielen leeren Nullen, / Die gern sich beisetzt, wer sich fühlt als Zahl, / Doch wegstreicht, kommts zum Teilen in der Rechnung.“ (V. 1536ff.).
Einer der wichtigsten Akteure im politischen Konflikt und eine interessante Figur im Hinblick auf die Gegenwart Grillparzers ist der intelligente Emporkömmling Klesel, der sich vom Bäckerssohn zum Bischof von Wien und unentbehrlichen Kanzler Matthias’ hochgearbeitet hat. Als juristisch versierter ‚Federpfuscher‘, der mit der Feder kämpft und den demütigenden Hochmut und die Inkompetenz des oberen Standes ertragen muss, hat Grillparzer gute Voraussetzungen gehabt, diese Figur mit hoher Komplexität zu gestalten.1 Scheinbar seinem Herrn Matthias mit großer Liebe dienend und zugleich mit einem starken persönlichen Ehrgeiz ausgestattet, bleibt Klesel eine opake Figur, die auch stets eine Maske tragen muss, um sich durchzusetzen. Er zeigt sich aber in diesem Spiel durch Klugheit, Nüchternheit und Improvisationstalent den Habsburgern weit überlegen und bekommt zunächst, was er haben wollte: den Frieden mit den Türken und eine Vollmacht für Matthias, der sich allerdings seinerseits für diese Macht zu schwach fühlt. Als Fürsprecher der vertraglichen Schlichtung von politischen und konfessionellen Konflikten ist Klesel der ideologische Gegner von sowohl Rudolf als auch Ferdinand und wird von beiden sehr gefürchtet. Im 5. Akt ebnet Ferdinand daher seiner eigenen blutigen Nachfolgerschaft den Weg, indem er Klesel in Abwesenheit Matthias’ verhaften und entführen lässt. Dies gibt aber Klesel die Gelegenheit, im heftigen Wortduell noch einmal seine Haltung Ferdinand gegenüber deutlich zu machen, darunter sein Plädoyer für eine prinzipielle Trennung von Wissen und Glauben (V. 2492ff.).2
Klesel, der seine Verhaftung als soziale Demütigung empfindet, wünscht sich einen Rächer herbei, der sich „dienend […] zum Herrn aufgedrungen“ haben wird, und dieser wird dann auch prompt als „Herr Oberst Wallenstein“ gemeldet. Wie die Zitate des Souffleurs Simon und die Selbstaufopferung Julies in Dantons Tod die Abkehr von der klassischen Geschichtstragödie reflektieren, ist es schwer, in diesem fast saloppen Auftritt Wallensteins am Ende des Trauerspiels nicht einen Kommentar Grillparzers zur Geschichtsdramatik Schillers zu sehen. Diese Figur und der mit ihr verbundene historische Stoff, denen Schiller mit gehörigem Pathos eine ganze Trilogie widmete, wird bei Grillparzer mit Elementen der Komödie eingesetzt, die mit einem unheimlichen Verfremdungseffekt tradierte Gattungsnormen verletzt.3 So wird z.B. im Munde Wallensteins der Prager Fenstersturz, der immer als das Fanal des dreißigjährigen Krieges galt, zum Witz:
Der Mathes Thurn ließ eben, als ich abging,
Nach einer alten Landessitte, sagt er,
Sie aus den Fenstern werfen am Hradschin,
Im vollen Landtag und im besten Sprechen.
Doch sind sie unverletzt, seid unbesorgt.
Sie haben noch gar höflich sich entschuldigt,
Weil nach dem Rang sie nicht zu liegen kamen,
Zuoberst, weil zuletzt, der Sekretär.
Betrachtet Böhmen drum als feindlich Land.
WALLENSTEIN. Nun, um so besser denn! (V. 2721ff.).
Die Bemerkung Wallensteins: „Der Krieg ist gut, und währt’ er dreißig Jahr“, die Heinz Politzer als an der Grenze zum Geschmacklosen eingestuft hat, wird am Ende im Chor wieder zum Besten gegeben:
FERDINAND. Es geht in Krieg, seid froh, Herr Wallenstein.
WALLENSTEIN. Ich bins.
MEHRERE. Wir auch, und währt es dreißig Jahr.
– Ja wärens dreißig – Dreißig! – Um so besser.
indem sie Wallenstein die Hand schütteln, alle ab (V. 2895ff.).4
Wallenstein erscheint hier als der Herr der Zukunft, der auch die Hierarchien der Herrschaft herausfordern wird – aber wie das Publikum weiß, ist auch dieser Weltmetzger schon dem gewaltsamen Tode geweiht. Die schnelle Abfolge der Machthaber, die sinnlose Reihe und das schiere Ausmaß der Menschenopfer, das Fehlen eines gemeinsamen – idealen oder objektiven – Bodens der vielen streitenden Meinungen außer der brutalen Realität der Macht und des Todes, das unkoordinierte, dezentrierte Wesen des Menschen – wie Dantons Tod zeugt auch Ein Bruderzwist in Habsburg von einer Ernüchterung der Anthropologie und eine Anpassung der Rolle der Kunst an die Bedingungen der Moderne, die ihrer Zeit weit voraus ist. In seiner Zeitdiagnose ist Grillparzer, obwohl vom Materialismus weiter entfernt als Büchner, mit seinem pessimistischen Humanismus auf der Höhe seines Zeitgenossen Karl Marx, dessen Diagnose – „Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht“5 – er offensichtlich teilte, wenn auch nicht die damit verbundene Utopie.
Büchners und Grillparzers dramatische Reflexionen über diese Situation bringen sie mit ihrer verfremdenden Mischung aus tragischen Konflikten, Slapstick und einem bösen Lachen in die Nähe der Ästhetik des Absurden und des Grotesken, die nach 1945 im europäischen Theater Konjunktur hatte. Aber im Gegensatz zu Dürrenmatt, der bereit war, die Frage der individuellen Schuld durch den Begriff der Kollektivschuld zu ersetzen,6 wird trotz dem Einblick in die unbeherrschbare Dynamik der Geschichte eine solche kollektive Absolution von der persönlichen Verantwortung weder bei Büchner noch bei Grillparzer erteilt. Im Gegensatz zu Rudolf, der am Ende des 4. Akts sich selbst und seinem Haus verzeiht – „Sollt ich euch strenger richten als mich selbst? / Wir haben’s gut gemeint, doch kam es übel.“ (V. 2284f.) – bekommt die verzweifelte Geste Matthias’, die von Militärmusik und Vivatrufen in der Ferne begleitet wird, das letzte Wort. Im Moment seiner Ernennung zum Kaiser kniet er, von inneren Bildern geplagt, „wiederholt die Brust schlagend: Mea culpa, mea culpa, / Mea maxima culpa“.
Literatur
Büchner, Georg (1988). Dantons Tod. In: Werke und Briefe. Hrsg.