Franz Grillparzer. Группа авторов
sich wie ein roter Faden zieht und den Bezug zur Gegenwart Grillparzers herstellt. Die Energie der Auflehnung gegen die willkürliche Machtausübung der Aristokratie, die das Bürgertum in Lessings Emilia Galotti auf zugespitzte Weise im Akt des Selbstmords nach innen kehrt, ist bei Bücher in revolutionäre Energie umgewandelt, die jedoch vor den revolutionären Bürgern selbst keinen Halt macht.1 Bei Grillparzer wird der Lukretia-Stoff in einer Art Umkehrung thematisiert: War bei Lessing die Integrität der Bürgerstocher Emilia schon von ihr selbst in Frage gestellt, und ihr Selbstmord – durch die Hand ihres Vaters – damit begründet, dass sie sich ihre Verführbarkeit eingesteht und daher für ihre Handlungen nicht mehr verbürgen kann, treibt bei Grillparzer die opake Selbstgerechtigkeit Lukrezias Don Cäsar zur Wahnsinnstat – an Lukrezia und an sich selbst. Als der von seiner Haft entflohene Don Cäsar Lukrezia am Anfang des 4. Aufzugs aufsucht, während ihr Vater in der Stadt zur Wehr der Prager Bürger gegen das von Rudolf genehmigte Passauer Heer ruft, geht es ihm nicht um Verführung, sondern um die
[…] einzge Leidenschaft der Wunsch: zu wissen.
Lasst mich erkennen Euch, nur deshalb kam ich;
Zu wissen was Ihr seid, nicht was Ihr scheint.
Denn wie’s nur eine Tugend gibt: die Wahrheit,
Gibt’s auch ein Laster nur: die Heuchelei. (V. 1914ff.)
Als Lukrezia in das Seitengemach flüchtet, in dem sich das von einer Kerze beschienene Bild Belgijosos befindet, schießt er seine Pistole nicht gegen Lukrezia, sondern „in der Richtung der offenen Türe ab“, gleichsam als könne er damit als letzten Ausweg den erfahrenen Riss überbrücken, der in der Zweiteilung des Raumes symbolisiert ist. Indem er im starken Affekt Lukrezia tötet, wird aber der Riss nur noch verstärkt.
Die Spaltung, die er durch die Heuchelei erfährt, ist vom Anfang des Stückes eng mit seiner Beziehung zum Vater verknüpft. In diesem Stück äußert sich die Spaltung nicht nur in den inneren Widersprüchen des Subjekts und in der Unlesbarkeit des Anderen, die in Dantons Tod mit dem Masken-Motiv verbunden war – die Verkennung des Anderen ist hier ebenso sehr den Projektionen des Betrachters geschuldet. Lukrezia und Don Cäsar sehen in einander längst nicht mehr das Individuum, sondern den Repräsentanten des Bösen. Lukrezias Reaktion, als sie Don Cäsar erblickt, „O Gott, so schaut das Unglück!“, beantwortet er mit: „Erschreckt nicht, holde Maid! Ich bin es selbst; / Und bins auch nicht.“ (V. 1882ff.). Wie das Folgende zeigt, sieht auch er Lukrezia nicht so sehr als eine Frau, die er liebt, sondern als Vertreterin der Einsichten, die ihn bedrücken und die mit seiner Situation als Bastard, der von seinem Vater verleugnet wird, zusammenhängen. Aus seiner Darstellung der Anzeige Belgijosos geht hervor, daß der Verlust der Vaterliebe dem Verlust Lukrezias vorausging:
Im wilden Toben war er mein Genoß.
Doch ging er hin und zeigt’ es heimlich an
Und brachte mich um meines Vaters Liebe.
[…]
Zu gleicher Zeit betrat er euer Haus.“ (V. 1945ff.)
Nachdem sich Don Cäsars Bild von Lukrezias „Reinheit, Unschuld, Tugend“ (V. 1925) in Schein verwandelt hat, versucht er zunächst den Riss zu schließen, indem er ihr ein Geständnis ihrer Liebe zum toten Belgijoso abfordert. Lukrezia kommentiert dies mit Worten, die ein allgemeines Problem im Drama formulieren: „Wie ohne Grund ihr mich zu hoch gestellt, / So stellt ihr mich zu tief nun ohne Grund.“ (V. 1936f.). Denn ebenso unerklärlich scheint die Abkehr Rudolfs von Don Cäsar im 1. Akt (nachdem er ihn mit den Worten Klesels V. 174 „sehr geliebt“ hat), und die im Folgenden demonstrierte Übertragung seiner Liebe auf Leopold. Rudolf beginnt im 1. Akt erst nach dem Auftritt Don Cäsars sich mit der Außenwelt zu befassen, und bricht das Schweigen mit einem jähen Ausdruck seines Zorns auf die Bitte Don Cäsars, Rußworm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen:
„Er stirbt! – Und du mit ihm,
Wagst ferner dus ein Wort für ihn zu sprechen. –
Entarteter! Ich kenne deine Wege.
Du schwärmst zu Nacht mit ausgelaßnen Leuten,
Stellst nach den Kindern ehrbar stiller Bürger,
Hältst dich zu Meutern, Lutheranern.“ (V. 270ff.)
An allem, was er hier Don Cäsar vorwirft, macht sich aber auch er selbst oder aber machen sich Personen, deren Handlungen er billigt, irgendwann schuldig. So ist der nächste Vertraute Rudolfs, sein Freund Julius von Braunschweig, ein Lutheraner; das nächtlich ausgelassene Schwärmen wird auch dem Neffen Leopold nachgesagt, doch in seinem Falle nimmt Rudolf dies als Beweis dafür, daß er „ein Mensch“ ist (V. 515). Als Leopold im 2. Akt Lukrezia vor Don Cäsar rettet, macht er ihr zugleich ohne ihre Billigung den Hof.2 Man darf außerdem vermuten, daß die Mutter Don Cäsars ebenfalls ein „Kind ehrbar stiller Bürger“ war, dem Rudolf seinerzeit nachgestellt hat. Rudolf belegt aber die Identität Don Cäsars als die seines Sohnes mit einem Tabu, dessen Verletzung mit „ewige[m] Gefängnis, / Entfernt vom Strahl des gottgegebnen Lichts“ (V. 295f.) bestraft werden soll. Diese Drohung ist Ausdruck einer Verkoppelung von väterlicher bzw. kaiserlicher und göttlicher Macht, die Rudolf immer wieder herstellt. Etwas Ähnliches macht sich in seinem Blick auf Don Cäsar bemerkbar. Denn wie er sich selbst mit Gott verbindet, so sieht er in Don Cäsar plötzlich ein Teufelsgesicht: „Und also steht er da, hohnlachend, trotzend, / Wie einst der Teufel vor des Menschen Sohn.“ (V. 298f.).
Don Cäsar muss es ertragen, dass der dämonisierende Blick seines leiblichen Vaters ihn zum „frechen Sohn der Zeit“ stilisiert, ein Symbol der geschichtlichen Dynamik, die er als Kaiser zugegebenermaßen nicht beherrscht, während er den Neffen Leopold adoptiert, der sich als der wahre Versucher entpuppt3. Indem dieser in der Peripetie des Dramas dem psychisch destabilisierten Rudolf mit dem Argument der Liebe4 die schriftliche Genehmigung zur Einsetzung des Passauer Heeres zum Schutz Rudolfs abringt, übernimmt Rudolf aber in der Logik der Handlung die Vaterschaft jener zentrifugalen Kräfte der Zeit, die er stellvertretend in Don Cäsar bändigen wollte.5
Dieser Zusammenhang wird im Drama auch bildlich durch das Motiv des Pferdes reflektiert. Von Leopold heißt es im 1. Akt: „Im Schloßhof tummelt er das türksche Roß, / Das ihr gekauft und das Don Cäsar schulte.“ (V. 509f.) Im 4. Akt taucht das Motiv in übertragener Bedeutung auf, das eingetretene (und von Leopold beschleunigte) Chaos reflektierend. Hier tritt Graf Thurn als der neue, vorläufige Herrscher im Hradschin auf, der Rudolf unter Aufsicht gestellt und den Zugang zu Rudolfs Laboratorium zugemauert hat. Auf den Einwand Graf Schlicks, dass die Maßnahmen gegen Rudolf doch weiter gingen, „als die Absicht war“, antwortet Thurn:
Die Absicht, Freund, ist ein vorsichtger Reiter
Auf einem Renner feurig, der die Tat,
Den spornt er an zu hastigem Vollzug.
Hat er das Ziel erreicht, zieht er die Zügel
Und meint, nun wärs genug. Allein das Tier,
Von seiner edlen Art dahingerissen
Und von dem Wurf des Laufes und der Kraft,
Es stürmt noch fort durch Feld und Busch und Korn,
Bis endlich das Gebiß die Glut besiegt.
Da kehrt man denn zurück.
SCHLICK. Wenns dann noch möglich. (V. 2211ff.)
Damit sind menschliche Absichten und Taten keineswegs als ohne Bedeutung für geschichtliche Ereignisse dargestellt, denn, wie Thurn abschließend bemerkt: „All, was geschehn, das hast du auch gewollt“ (V. 2222)6 – aber sie stehen nur am Anfang eines irreversiblen Prozesses. Ganz parallel dazu taucht das Motiv des zügellosen Pferdes im Alptraum Dantons auf, der von der Ohnmacht dem Weltgeschehen gegenüber handelt: „Unter mir keuchte die Erdkugel in ihrem Schwung; ich hatte sie wie ein wildes Ross gepackt, mit riesigen Gliedern wühlt‘ ich in ihren Mähnen und presst’ ich ihre Rippen, das Haupt abwärts gewandt, die Haare flatternd über dem Abgrund; so ward ich geschleift.“7
„Aus eignem Schoß ringt los sich