Andran und Sanara. Sven Gradert

Andran und Sanara - Sven Gradert


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im Zentrum des Platzes. Vor jedem von ihnen wurde eine Decke ausgebreitet, auf denen mehrere Kriegerinnen die Dinge platzierten, die sie mitnehmen durften. Ein Messer, einen Bogen mitsamt einem vollen Köcher Pfeile, etwas Trockenfleisch und einen Beutel mit verschiedenen Kräutern, die bei Verletzungen hilfreich waren. Andran und Manith warfen sich immer wieder verstohlene Blicke zu. Sie freuten sich auf die Prüfung. Angst hatten sie beide nicht.

      Nachdem die Königin ihre Rede über Traditionen und die Notwendigkeit dieser Prüfung beendet hatte, begann die Schamanin mit ihren Riten. Gleichzeitig begannen mehrere Kriegerinnen auf die mit Tierhäuten bespannten Trommeln zu schlagen. In wilden Rhythmen tanzte die Schamanin vor den fünf Jugendlichen. Dabei verfiel sie in eine Art Sprechgesang, dessen Sprache niemand verstand. Immer wieder berührte sie einen der Prüflinge an der Stirn oder bewarf ihn mit einem weißen Pulver, das sie aus einer Tasche nahm, die sie am Gürtel trug. Irgendwann begann der der Trommelschlag schneller zu werden, woraufhin die Schamanin den Beutel mit den fünf Steinen hervorholte und in die Luft hielt. Der Klang der Trommeln wurde leiser und eine fast greifbare Spannung breitete sich unter allen Anwesenden aus. Die vier jungen Amazonen und Andran standen der Größe nach nebeneinander. Die Kleinste durfte immer zuerst ziehen, die Größte zog stets zuletzt. Somit war in diesem Jahr Andran als letzter mit dem ziehen dran. Manith musste ihren Stein direkt vor ihm ziehen. Die Schamanin schritt auf die kleinste Amazone zu und forderte sie mit einem Kopfnicken auf, ihren Stein zu ziehen. Von den dumpfen leisen Trommelschlägen abgesehen, war es totenstill auf dem großen Platz. Die Amazone zog mit verschlossenen Augen einen Stein und hielt ihn weithin sichtbar in die Höhe. Er war weiß. Ein leises Gemurmel erhob sich, nur um sofort wieder zu ersterben. Die zweite Kandidatin zog ihren Stein und hielt ebenfalls einen weißen Kiesel in die Höhe. Elze fühlte sich einer Ohnmacht nahe, während Zara anfing sich vor Nervosität die Unterlippe blutig zu beißen. Als das dritte Mädchen ebenfalls einen weißen Stein in die Höhe hielt, wurde die Spannung unerträglich. Die Schamanin stellte sich vor Manith und hielt ihr den Beutel hin. Mit geschlossenen Augen zog das Mädchen ihren Stein und streckte ihn empor. Ein entsetztes Aufstöhnen fuhr durch die Reihen der Kriegerinnen und veranlasste Manith ihre Augen zu öffnen und zu ihrem Stein zu blicken. Sie hatte den schwarzen Stein gezogen. Elze hingegen fiel ein Stein vom Herzen, doch im nächsten Augenblick tat ihr Manith unendlich leid. Dann suchte sie mit ihren Augen nach Rotauge, um mit der Wölfin in ihre Hütte zu gehen, wie Rowena es von ihr verlangte. Obwohl sich Rotauge nie weit von Andran entfernt aufhielt, konnte sie das Tier nirgendwo entdecken. Die Königin hielt sich tapfer, aber Zara konnte ihr ansehen, dass sie mit den Tränen zu kämpfen hatte. Nachdem Andran den letzten verbliebenen weißen Stein zog, wandte sich die Königin an den Stamm, um die Aufgaben zu verkünden. Ihrem Volk stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, als es die Aufgabe vernahm, die Manith zuteilwurde. Aber als ob Rowena es geahnt hatte, sah sie auch in einige zufriedene Gesichter. Ausnahmslos Schwestern, die ihre Töchter bei vorherigen Prüfungen des schwarzen Steins verloren hatten. Andran schaute zu Manith herüber, die seinen Blick trotzig erwiderte.

      „Ich werde dieses verdammte Biest erwischen Andran!“ flüsterte sie ihm wütend zu: „Das schwöre ich dir. Ich werde mit diesem verdammten Reißzahn in meinen Händen zurückkehren.“

      Andran wurde zum ersten Mal die Ungerechtigkeit dieses Rituals so richtig bewusst. Er hatte vorher einfach nie darüber nachgedacht. Während er sowie die anderen drei Mädchen lediglich eine Woche allein in der Wildnis klarkommen mussten, stand Manith vor einer Aufgabe, die einer vierzehnjährigen nur den Tod bescheren konnte. Amazone hin oder her. Die fünf wurden nun einzeln, jeweils von zwei Kriegerinnen begleitet, in verschiedene Richtungen des Waldes geführt. Während sich die Menge auf dem Platz allmählich auflöste, blickte Rowena ihnen hinterher. Nachdem Manith nicht mehr zu sehen war, wandte sie sich um und sah Elze, die wild gestikulierend auf Zara einredete. Die Königin schritt zu den Frauen und bedachte Elze mit einem verwunderten Blick:

      „Du solltest dich doch mit Rotauge in deine Hütte zurückziehen!“

      Elze zuckte nur hilflos mit ihren Schultern:

      „Ich suche das Tier seit Manith ihren Stein gezogen hat. Doch ich kann Rotauge beim besten Willen nicht finden.“

      „Ich kann mir kaum vorstellen,“ brachte Zara trocken hervor: „Das es für Andrans Prüfung von Bedeutung ist, ob sich Rotauge in seiner Nähe aufhält oder nicht.“

      Rowena nickte geistesabwesend. Sie wusste genau, dass Zara Recht hatte. Im Geheimen wünschte sie sich mit einem Mal, das die Wölfin auf Manith dermaßen Acht geben würde, wie sie es bei Andran tat. Das Schwindelgefühl, das die Königin seit einigen Minuten fest gepackt hielt, drohte schlimmer zu werden. Sie ließ Elze und Zara wortlos stehen und wollte nur noch ihre Hütte erreichen. Als sie die Decken des Eingangs zur Seite schob, konnte sie gerade noch eintreten, bevor sie von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt zusammenbrach.

      ***

      Die beiden Kriegerinnen führten Andran eine gefühlte Ewigkeit in eine bestimmte Richtung des Waldes. Andran kannte die Umgebung des Dorfes in und auswendig, aber bei der Dunkelheit befürchtete, er die Orientierung zu verlieren, je weiter sie marschierten. Endlich war es soweit. Die beiden Kriegerinnen bedeuteten ihm allein weiterzugehen. Mit ihren typischen, fließenden Bewegungen verschwanden sie urplötzlich im Unterholz und entfernten sich. Andran wartete eine Weile ab und starrte zum Himmel. Unwillkürlich musste er lächeln. Zara brachte ihm früh bei, sich an den Gestirnen zu orientieren. Dann sprintete er los. Er musste so schnell wie möglich in Richtung des Dorfes zurück rennen, und es dann weitläufig umrunden, wenn er Manith einholen wollte. Dabei war höllische Vorsicht geboten, damit er nicht die Kriegerinnen auf sich aufmerksam machte, die ihn in die Wildnis führten. Obwohl er sich sicher war, dass die beiden sich so schnell wie möglich wieder ins Dorf begeben würden, wollte er nichts dem Zufall überlassen. Er konnte die Zeit schlecht einschätzen, vermutete aber, dass es ihn zwei Stunden kosten würde, bis er Maniths Spur aufnehmen konnte. Andran rannte wie ein Teufel. Dabei sprang er elegant über Hindernisse, wie umgestürzte Bäume oder kleinere Flussläufe, die sich in großer Anzahl durch den Schwarzen Wald schlängelten. Zara hatte ihm stets eingeschärft, sich in der Wildnis niemals zu verausgaben. Somit hielt er gelegentlich an und ging kurz in die Hocke, um sich seine Kräfte besser einzuteilen. Bei einer dieser kurzen Pausen ließ ihn ein Rascheln im Gebüsch direkt neben ihn zusammenfahren. Er spannte jeden Muskel seines Körpers an und lauschte. Dabei ließ er das Gebüsch nicht aus den Augen. Erleichtert stieß er den Atem aus den er anhielt, als die Zweige der Büsche auseinander fuhren und Rotauge aus dem Dickicht schritt. Sofort legte er seine Arme um den kräftigen Nacken der Wölfin und liebkoste sie.

      „Nun sind wir beide in Schwierigkeiten!“ sprach er zu ihr und kraulte jetzt ihr linkes Ohr. Einer Eingebung folgend blickte er dem Tier direkt in die Augen:

      „Manith!“ flüsterte er Rotauge zu: „Wir müssen Manith finden! Manith!“

      Die Wölfin, die den Namen natürlich kannte, spitzte ihre Ohren. Andran wiederholte Maniths Namen noch mehrere Male, und bedeutete dem Tier zu suchen. Rotauge begann zu wittern und schlug plötzlich eine bestimmte Richtung ein. Andran lobte das Tier überschwänglich, dann rannte die Wölfin los. Das Tempo des Tieres konnte Andran unmöglich mithalten. Zuerst blieb Rotauge öfter stehen und wartete auf ihn, dann passte sich das kluge Tier seiner Geschwindigkeit an. Als die Morgendämmerung anbrach, fand er zu seiner großen Erleichterung schnell die ersten Spuren von Manith. Die Wölfin hatte ihn in genau die richtige Richtung geführt. Das Tier schnupperte aufgeregt an den Spuren, und sie liefen sofort weiter. Als sie erneut an einen schmalen Wasserlauf kamen, beschloss Andran, sich für einen Moment auszuruhen und etwas von dem Trockenfleisch zu essen, das er mitbekommen hatte. Er setzte sich auf einen Stein und beobachtete wie Rotauge zum Wasser trottete, um zu trinken, als er eine Pfeilspitze in seinem Nacken spürte.

      „Bist du eigentlich wahnsinnig?“ hörte er Maniths vertraute Stimme. Andran erhob sich und drehte sich zu dem Mädchen um, das den Pfeil gerade wieder in ihrem Köcher verschwinden ließ.

      „Meine Mutter wird uns beide umbringen, sobald sie erfährt, dass du mir gefolgt bist!“

      „Da muss sie sich jetzt wohl hinten anstellen!“ brachte Andran süffisant hervor: „Dieser Murlog hat da ja wohl das Vorrecht!“


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