Andran und Sanara. Sven Gradert

Andran und Sanara - Sven Gradert


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jedes Jahr eine unserer mutigsten Schwestern den Tod findet. Du bestehst als einzige auf die Ziehung der Steine und berufst dich dabei auf den Willen der Götter!“

      „Es ist der Wille der Götter!“ schrie die Schamanin Andran an und spuckte ihm dabei vor die Füße. Dabei fuchtelte sie mit der abgetrennten Vogelkralle vor seinem Gesicht herum. Andran packte blitzschnell ihren Arm, entriss ihr den Stock an dem die Kralle befestigt war und warf ihn hoch in die Luft. Sofort schoss ein Rabe heran und packte den Stock mit seinem Schnabel, wobei er aufgeregt im Kreis flog und wie von Sinnen krähte. Die Amazonen trauten ihren Augen kaum, als hunderte, tausende dieser Tiere aus den Baumkronen hervorkamen und den Himmel über sie verdunkelten. Mehrere Raben stürzten sich auf die Schamanin und begannen sie zu attackieren. Andran hatte den Tieren befohlen die Frau nicht zu töten. Für einen Augenblick bekam er Angst, dass die Tiere seinen Befehl missachteten. Doch schnell ließen sie wieder von ihr ab und schossen erneut in die Höhe. Andran ging auf die Schamanin zu die wimmernd und schlotternd vor Angst in die Hocke gegangen war. Sie blutete lediglich aus mehreren kleineren Kratzern.

      „Ich denke wir waren soeben alle Zeugen von etwas, das den wahren Willen der Götter bekundet.“ sprach Andran so laut, das ihn alle verstehen konnten: „Ich habe euch gefragt ob ich ein Mitglied des Stammes bin, weil nur ein Stammesmitglied das Recht dazu hat, die Worte der Schamanin in Frage zu stellen. Ich bin jederzeit bereit mein Leben für jede von euch zu geben. Aber ich bin nicht bereit, zuzusehen, dass der Irrsinn dieser Prüfungen andauert. Schon gar nicht, wenn er nicht dem Willen der Götter entspricht.“

      Die Königin schritt nun auf Andran zu und musterte ihn. Sie versuchte zu verstehen, ob sie wirklich Zeuge einer Machtdemonstration der Götter gewesen war, oder ob Andran, dem sie wirklich so ziemlich alles zutraute, wenn es um Tiere ging, irgendetwas damit zu tun hatte. Als ihr Blick auf Manith fiel, war es ihr urplötzlich egal. Mit lauter und fester Stimme wandte sie sich an ihr Volk:

      „Die Prüfung des schwarzen Steins hat in diesem Jahr zum letzten Mal stattgefunden. Wir werden in Zukunft einen anderen Weg finden, eine von uns zur zukünftigen Königin zu bestimmen.“

      Kaum hatte sie den Satz zu Ende gesprochen, schickte Andran kraft seines Geistes einen Befehl zu den Raben und die Tiere begannen sich in alle Himmelsrichtungen zu verstreuen. Die Amazonen blickten zum Himmel und begannen zu jubeln. Andran erkannte, dass viele der Schwestern, die zuvor auf der Seite der Schamanin standen und grimmig drein blickten, ebenfalls jubelten. Manith kam ganz dicht an Andran heran, bis ihre Lippen fast seine Ohren berührten:

      „Du... du hast doch nicht etwa...?“

      Andran grinste sie nur an und gab ihr ihren Reißzahn zurück als Elze auch schon mit Tränen in den Augen vor ihm stand. Zärtlich nahm er die alte Frau in die Arme und drückte sie fest an sich. Rowena zeigte mehr Selbstbeherrschung und bedeutete den anderen ihr in die Ratshütte zu folgen, während sich der Pulk von Amazonen allmählich auflöste. Im Inneren der Hütte, wurden Andran, Elze, und Zara jedoch Zeugen von der Tatsache, dass auch die Königin ihre Gefühle nicht immer im Griff hatte. Weinend schloss sie ihre Tochter in die Arme. Rotauge ging gemächlich zu einem der größeren Felle nahe dem Feuer und legte sich hin. Dabei ließ sie Andran wieder einmal nicht aus den Augen. Zara kam es jedoch so vor, als ob das Tier den Jungen anders als sonst anstarrte.

      Nachdem sich alle um das Feuer gesetzt hatten, forderte Rowena Andran und Manith auf, ihnen alle Einzelheiten ihres Abenteuers zu erzählen. Abwechselnd schilderten die beiden von ihren Erlebnissen und betonten immer wieder, dass sie die Prüfung ohne die Hilfe von Gulinor und dem Beistand von Rotauge niemals hätten bestehen können. Rowena erhob sich, ging zu ihrer Tochter, die ihr gegenüber saß und betrachtete die Kralle des Schneelöwen, die Manith um den Hals trug genauer:

      „Ihr habt sehr klug gehandelt. Alle beide. Die Barbaren sind seit ewigen Zeiten Feinde unseres Volkes. Vielleicht habt ihr es sogar geschafft, dass sich dieser Zustand ändert, sollte dieser Gulinor eines Tages das Erbe seines Vaters antreten.“

      Rowena, Elze und Zara unterhielten sich bis spät in die Nacht mit Manith und Andran. Dabei vermieden sie es über das Ereignis mit den Raben zu sprechen. Elze und Zara waren jedoch davon überzeugt, dass Andran eine Fähigkeit entwickelt hatte, die es ihm ermöglichte, mit den Tieren zu kommunizieren. Dafür wussten beide einfach zu viel über seine Herkunft. Manith kannte sein Geheimnis ohnehin, und Rowena begann allmählich etwas zu ahnen.

      Irgendwann wurde Zara müde und beschloss, in ihre eigene Hütte zu gehen um sich schlafen zu legen. Bevor sie die Decken nach draußen aufschlug, wandte sie sich noch einmal den Jugendlichen zu:

      „Ihr solltet euch jetzt ebenfalls in eure Hütten begeben. Bei Tagesanbruch will ich euch auf dem Balken sehen!“

      2.4. Totgesagte leben länger

       Die Versammlung der Fürsten des Hochlandbundes, die Angst der Menschen vor einem drohenden Krieg, sowie die Ungewissheit ob die erschreckenden Nachrichten aus dem Süden der Tatsache entsprach, ließen Vitras nicht mehr zur Ruhe kommen. Der Kriegszauberer hielt es im Augenblick nicht für sinnvoll, sein Wissen von der Prophezeiung „Der Zwei die Eins sein müssen“ weiterzugeben. Dass ein übermächtiger Dämon, in nicht allzu ferner Zeit, in der Lage wäre, die Welt der Lebenden zu betreten, würde ein unverantwortliches Chaos hervorrufen. Somit beschloss Vitras, sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, wie die Dinge im Süden zurzeit standen. Zudem war es notwendig, ein Treffen mit den führenden Mitgliedern der Handelsgilde in Diran zu arrangieren. Die neuen Modalitäten, die die vom Bund beschlossenen Verlegungen der Handelsrouten mit sich brachte, mussten dringend vor Ort erörtert werden. Nach reiflicher Überlegung, entschied sich Vitras dafür, Sanara mitzunehmen. Seine Enkeltochter hatte bisher eine durchweg glückliche und behütete Kindheit. Für diese Tatsache war er überaus dankbar. Doch in Anbetracht der Prophezeiung, hielt Vitras es nicht nur für wichtig, sondern auch die Zeit für gekommen, dass seine Enkeltochter eine wichtige Lektion lernte. Sie musste mit eigenen Augen erkennen, dass es sich in der Welt nicht überall so friedlich wie im Fürstentum verhielt. Als Fürstin Eldar erfuhr, dass Vitras vorhatte, Sanara auf die gefährliche Reise in die vom Krieg bedrohte Stadt Diran mitzunehmen, bekam sie einen Tobsuchtsanfall, der seinesgleichen suchte. Dem Kriegszauberer gelang es jedoch, Eldar von der Notwendigkeit seines Vorhabens, zumindest teilweise zu überzeugen. Sein Argument, dass es in der gesamten bekannten Welt keine vierzehnjährige gab, die dank ihrer magischen Fähigkeiten besser auf sich Acht geben konnte als Sanara, beruhigte die Fürstin. Am Tag ihrer Abreise warnte sie den Kriegszauberer allerdings, dass er es nicht wagen sollte ihr wieder vor die Augen zu treten, wenn das Mädchen auch nur einen Kratzer davontragen würde.

      Die mehrwöchige Reise im Schutze einer großen Handelskarawane, führte sie durch Teile der Gillischen Wälder und den weiten Ebenen Umurs. Am späten Abend, des dritten Tages des großen Weinfestes, erreichten sie endlich die Stadt Diran. Vitras betrachtete mit Unbehagen die Wehranlagen der Stadt. Sie wirkten für ein ungeübtes Auge durchaus imposant. Sie standen jedoch in keiner Weise in Konkurrenz zu denen von Kushtur und schon gar nicht derer von Darkan. Dabei waren sie durchaus dazu angelegt, einem überlegendem Feind, längerfristig standzuhalten. Allerdings befanden sich die Mauern in einem erbärmlichen Zustand. Bei vielen Mauerabschnitten waren im Laufe der Zeit große Brocken herausgebrochen, und Risse zogen sich quer durch die gesamten Wehranlagen. Jetzt könnte es sich rächen, niemals auch nur eine Gold Sesterze in die Instandhaltung gesteckt zu haben. Nachdem die Zollmodalitäten erledigt waren, wurde die Karawane durch das große Haupttor gelassen. Eine breite Straße, die von fünf und sechsstöckigen Gebäuden gesäumt war, führte vom Tor zum Zentrum der Stadt, wo sich der große Basar befand. Menschen mit den verschiedensten Hautfarben schoben sich wie eine gewaltige Schlange voran und riefen, brüllten oder schrien in den unterschiedlichsten Sprachen. Starr vor Staunen ritt Sanara neben ihrem Großvater und sog die Eindrücke, die sie zu überwältigen drohten, wie ein nasser Schwamm in sich auf. Sie begleiteten die Karawane noch bis zum großen Basarplatz, wo der Warenaustausch seinen Anfang nahm. Vitras verabschiedete sich von dem Karawanenführer und brachte die Pferde zu einer naheliegenden Stallung. Anschließend ging er mit Sanara zu Fuß weiter. Der Geruch all der fremdländischen Gewürze, hing wie eine schwere Dunstglocke über dem Basar


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