Andran und Sanara. Sven Gradert
ihn und Sanara hinab schauen. Endlich erreichten sie den Palast des Regenten von Diran. Hunderte von Soldaten hatten rund um das gesamte Palastgelände ihr Lager aufgeschlagen. Die rot gekleideten Bogenschützen wandten sich ab und verschwanden in verschiedene Richtungen. Als sie die ersten Zeltreihen erreichten, stellte sich ihnen sogleich ein wachhabender Leutnant mit mehreren Soldaten in den Weg. Als er jedoch Meister Brehm und Mai erkannte, drehte er sich wortlos um und winkte Brehm und sein Gefolge durch.
***
Vitras und Brehm befanden sich in einem geräumigen Arbeitszimmer des Palastes. Ein wuchtiger Schreibtisch stand seitlich eines Kamins, schräg vor einer der vier Ecken des Raumes. Durch ein riesiges Fenster aus buntem Glas, das vom Boden bis zur Decke reichte, konnte man den Schein der Lagerfeuer vor dem Palastgelände erkennen. In der gegenüberliegenden Wand war ein Kamin eingelassen, dessen Feuer eine wohlige Wärme spendete. Das gesamte Arbeitszimmer war mit schweren kostbaren Teppichen Umurs ausgelegt. Ein Diener betrat den Raum, stellte einen Krug Wein samt Bechern auf einen kleinen Beistelltisch, verbeugte sich und verließ wieder den Raum. Mai hatte es sich augenblicklich zur Aufgabe gemacht, Sanara in ihr Gemach zu bringen und sich eine Weile um das aufgewühlte Mädchen zu kümmern. Anschließend betrat auch sie das Arbeitszimmer und schloss die Tür.
„Eure Enkelin schläft jetzt Meister Vitras. Die lange Reise und die Ereignisse des heutigen Abends haben ihr ziemlich zugesetzt.“ plötzlich verzog Mai ihr Gesicht: „Man hätte mich aber gerne wegen des Raubtieres vorwarnen können!“ Dabei zeigte die Kriegszauberin, die in ihrer gesamten Aufmachung, wie ein menschlicher Dämon des Todes wirkte, ihren blutig zerkratzten Handrücken. Erst jetzt bemerkte Vitras das Sammelsurium verschiedenster Wurfwaffen, die sie über ihrer Lederkluft trug. Die aber von der dünnen Robe der Kriegszauberer verdeckt waren.
„Wenn man Sanara näherkommen möchte, muss man zuerst an Filou vorbei!“ erklärte er ihr schmunzelnd: „Das war schon immer so.“
Vitras war beinahe zum Lachen zumute, wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre. Trotzdem hätte er es gern gesehen, wie der kleine Nager dieser Frau die Krallen zeigte. Mai gab nur ein Achselzucken von sich, und schenkte sich einen Becher Wein ein.
„Kriegszauberin Mai also?“ fuhr Vitras fort und blickte fragend zu Brehm. Dieser blickte voller Stolz auf seine Schülerin, die es weitergebracht hatte als ihr Meister.
„Sie hat alle Prüfungen bestanden Vitras. Alle Aufgaben gemeistert, die ein angehender Kriegszauberer zu bestehen hat. Das versichere ich euch. Selbst die letzte Prüfung.“
„Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel mein Freund, nicht den geringsten.“
Daraufhin erhob Vitras seinen Becher in Richtung Mai:
„Es ist mir eine Ehre Meisterin Mai!“
Mai wirkte fast verlegen. Ihr bedeutete dies aus dem Mund eines der letzten lebenden Kriegszauberer sehr viel:
„Ich danke euch, Meister Vitras!“
„Nun denn,“ wandte sich Vitras wieder Brehm zu: „Ich habe eine Menge Fragen an euch. Diese neue Gottheit und ihre schwarz gewandte Priesterschaft. Was hat es damit genau auf sich. Und woher wussten sie von meiner Ankunft in Diran?“ Der alte Mann mit der roten Robe überging geschickt die Frage und zeigte auf einen der einladenden Sessel:
„Ihr solltet euch setzen Meister Vitras!“ Der Kriegszauberer kam Brehms Rat gerne nach. Ihm schmerzten inzwischen die Füße. Dann begann Brehm zu erzählen:
„Kurz nach eurer Verbannung, folgten heimlich fünf Mitglieder des Rates, Harun ar Sabah tief in die Gewölbe unterhalb des Palastes der Magier. Harun hätte sich ihrer niemals erwehren können. Nicht gegen alle fünf. Dennoch kehrte nur Harun lebend aus den Gewölben zurück. Die Wachmannschaften, die in den unteren Gewölben patrouillieren, jedoch nicht in den Tiefen in die Harun hinabsteigt, berichteten von grauenvollen Schreien, als die fünf Räte verschwanden. Daraufhin hat sich Mai heimlich in Haruns Gemächer geschlichen, um nach Antworten zu suchen. Dabei entdeckte sie uralte Papyrus Rollen, die seit Jahrhunderten als verschollen galten.“
Vitras blickte zu Mai, die nun fortfuhr:
„In den Papyrus Rollen ging es um einen längst vergessenen Gott aus dem Singarium, der zu seiner Zeit so unvorstellbar grausam war, dass die Götter ihn verbannten. Sie tilgten sogar seinen Namen.“
„Deswegen nennen sie ihn nur ES!“ brachte Vitras beinahe flüsternd hervor.
„Richtig!“ erklärte Mai weiter: „ES wurde zunächst ins große Sanktrum verbannt, wo er sich zum Herrscher der Dämonenwelt aufschwang. Wir alle kennen die uralten Geschichten, der legendären Schlacht der Götter gegen die Heerscharen der Dämonen. Im Verlaufe dieser Schlacht wurde ES von Astorius, dem Gott des Lebens besiegt und seiner Kräfte beraubt. Anschließend stieß man ihn ins große Nichts.“
Mai nahm einen kräftigen Schluck Wein und sog scharf die Luft ein:
„Offensichtlich ist es Harun gelungen ES aus dem großen Nichts zu befreien, ihn zu erwecken oder was auch immer. Nur wie er das angestellt hat... ist uns ein Rätsel!“
„Aus den Papyrus Rollen geht auch hervor,“ meldete sich nun Brehm wieder zu Wort:
„, dass ES ein Vierteljahrhundert benötigen wird, um seine ehemalige, volle Stärke zurück zu erlangen. Wir vermuten, dass davon schon fünfzehn Jahre vergangen sind. In dieser Zeit seines Erwachens, wird er von dem der ihn erweckt, erwarten, die Welt auf sein Kommen vorzubereiten. Mit Feuer und Schwert seinen Namen zu preisen!“
„Das große Übel!“ bemerkte Vitras: „Ein Dämonengott!“ brachte er noch fassungslos hervor.
„Wobei wir bei der Prophezeiung angelangt wären!“ ergriff Mai wieder das Wort: „Es gibt Gerüchte über eine alte Prophetie, der zufolge Die Zwei die Eins sein müssen das große Übel besiegen können!“
Meister Brehm wurde plötzlich ganz aufgeregt: „Die Zwei müssen schon längst geboren sein. Wir müssen sie finden!“
Urplötzlich musste Vitras laut auflachen und verschüttete dabei einen Teil seines Weins. Mai und Brehm blickten ihn nur verständnislos an.
„Was ist daran so lustig?“ fragte Brehm sichtlich irritiert.
„Nun ja,“ erwiderte Vitras: „Schon längst geboren ist gut. Ein Teil eurer Prophezeiung liegt dort oben mit einem Frettchen im Bett!“
Vitras schluckte den Rest des Weines der sich noch in seinem Becher befand herunter, und stand auf, um sich neu einzuschenken. Mai und Brehm waren absolut fassungslos. Keiner von beiden sagte ein Wort. Der Kriegszauberer ging mit seinem vollen Weinbecher wieder zu seinem Sessel, setzte sich und erzählte den beiden die ganze Geschichte. Als er geendet hatte, nahm er leicht amüsiert zur Kenntnis, dass Brehm und Mai leichenblass waren.
„Ihr... ihr habt mit einer Göttin...“ Mai wagte es nicht , die Frage zu beenden.
„Wenn ihr einmal den einen oder anderen Gott kennen lernen solltet Meisterin Mai, so werdet ihr feststellen, dass sie trotz ihrer unvorstellbaren Macht, verdammt menschlich sind.“ Daraufhin nahm Vitras wieder einen kräftigen Schluck aus seinem Becher.
„Und ihr wisst nicht was aus eurem Enkel geworden ist?“ Fragte Brehm.
„Nein, verdammt nochmal!“ schrie Vitras ihn urplötzlich an: „Es gibt Momente, da möchte ich es auch gar nicht wissen. Habt ihr nicht gesehen, was mit Sanara heute Abend geschehen ist? Sie hat getötet. Sie hat ihre kindliche Unschuld verloren. Glaubt ihr ich wünsche mir das auch bei meinem Enkel zu erleben?“
Mai und Brehm brachten zunächst kein Wort mehr hervor. Vitras Ausführungen mussten sie erst noch verarbeiten. Sein überraschender Wutausbruch tat sein Übriges, dass sie erst einmal schwiegen. Vitras fing sich jedoch schnell wieder und bedauerte, seine Wut an den beiden ausgelassen zu haben:
„Verzeiht bitte, aber es ist einfach unerträglich für mich, die Kleine leiden zusehen.“
Brehm