Apostasie. Marie Albes

Apostasie - Marie Albes


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Michele ein Lächeln auf die Lippen seiner Schwester gezaubert, die sich bei ihm geschützt fühlte wie bei niemand anderem auf der Welt.

       An diesem Abend gingen die beiden alleine in das alte Dorfkino und aßen später ein Eis. Michele kaufte ihr erneut einen Lippenstift, den gleichen, den ihre Mutter weggeworfen hatte.

      „ Aber denk daran“, gab er zu Bedenken und gab ihr die Papiertüte mit dem kleinen Geschenk, „Mama darf nichts davon wissen.“

      „ Verleitest du mich zum Verstoß von Mamas Vorschriften?“, kommentierte Elena kichernd.

      „ Ich? Sehr unwahrscheinlich!“

      „ Das ist wahr, du bist eine alte Bibliotheks- und Kirchenmaus.“

      „ Hey Lena, kritisiere nicht meine sozialen Dienste oder ich nehme den Lippenstift zurück.“

      „ Willst du diesen dann auch auftragen?“ Elena lachte als sie sich ihren Bruder mit rotem Lippenstift vorstellte. „Ich kritisiere unsere Eltern nicht, sondern bewundere sie. Aber das befreit dich nicht von dem Titel Bibliotheks- und Kirchenratte!“

      „ Du bist unverbesserlich.“

       Seit jenem Abend nahm sich Elena Gentile vor, dass sie nie wieder wegen böser Worte von ihrer Mutter weinen werde. Sie hatte beschlossen, eine bessere und stärkere Frau zu werden. Sie nahm sich vor, ihrem Bruder zu helfen, wenn er Hilfe benötigte, genau wie er es für sie tat.

      

      

      Zurück zu Ernesto Gentile, dem Familienvater: Der gesamte Ort wusste, was hinter den Mauern des Hauses geschah und über überhebliches Verhalten hinausging. Niemand hatte gewagt, etwas zu sagen, weil ‚es-sie-nichts-anging‘.

       Dennoch wuchsen die beiden Kinder gut auf und vor allem mit mehr guten Eigenschaften als Carla und Ernesto zusammen hergaben.

       Michele Gentile war das, was jeder einen „Engelsjungen“ nannte: Er war ein zurückhaltender Typ. Meistens trug er ein Buch unter dem Arm und eine Lesebrille auf dem Kopf, um sie griffbereit zu haben, wenn er sie benötigte. In der Tat verbrachte er mehrere Stunden damit, in schweren Bänden zu blättern.

       Er war zwei Frühjahre älter als seine Schwester und war bereits im Alter von zehn Jahren in der Kirchengemeinde aktiv. Den Rest seiner Freizeit verbrachte er damit, um Hilfsbedürftigen zu helfen. Er war überzeugt davon, dass es eine Pflicht war, Menschen, die weniger Glück hatten als er, zu helfen.

       Elena Gentile war hingegen ein Schmetterling.

       Trotz der nächtlichen Ausgänge mit ihrem Bruder als sie 16 und er 18 war, hatte sie noch nicht die Liebe getroffen, die ihr Leben verwandelte. Ihr Aussehen glich weniger einem Kokon, sondern eher einem Schmetterling mit bunten Flügeln.

       Elena war selbstbewusst, ohne überheblich zu sein, wie es ihr Vater war. Sie war herzensgut zu ihrem Nächsten, ließ sich aber von niemandem einschüchtern. Vor allem war sie ein kleiner Stern, der vor Leben und Lebensfreude strahlte.

       Wenn Michele und Elena gemeinsam durch die Straßen des Dorfes spazierten, grüßten die Leute gerne und waren von ihnen beeindruckt, nicht nur von ihrem Aussehen, sondern von ihrem Gemüt. Sie fragten sich, wie sie die Kinder von Carla und Ernesto sein konnten, derart unterschieden sie sich von ihnen. Wahrscheinlich, wenn es nicht aufgrund der Gesichtszüge gewesen wäre, die sie mit den Eltern teilten, hätten die Menschen gedacht, dass die zwei Seelen adoptiert seien.

       Auf jeden Fall macht Minus und Minus Plus und es lässt sich zumindest mathematisch erklären, wie zwei außerordentlich hübsche Menschen von zwei außerordentlich hässlichen Menschen abstammen konnten.

      

      

      

      

      ocho

      Eines Abends wurde Chiaras Schlaf gestört. An diesem Nachmittag hatte sie mit José eine angenehme Stunde verbracht und der Tag war wunderschön und schöp-ferisch. Trotzdem schlief sie in dieser Nacht leicht aufgewühlt. Ihre Träume waren wirr; sie konnte die Orte und Personen nicht richtig erkennen. Sie hörte italienische und spanische Worte, ohne dass sie die genaue Bedeutung verstand. Dann wurden die Bilder klarer und sie empfand im Traum Momente des vergangenen Tages nach.

      

      

      „ Hoy estoy muerto“, stöhnte José kurz nachdem er die Bibliothek betreten hatte. „ He trabajado como un burro.“

      Mit fallendem Gewicht ließ er sich auf dem Stuhl nieder, lehnte seinen Kopf an der Sitzlehne an und lächelte sie an. „ Buenas tardes, Chiara!

      Sie entgegnete mit einem weniger überzeugten Lächeln und antwortete ihm sofort, bevor ihr die Hände zitterten.

      „Irre ich mich oder sind wir im Italienischunterricht, José? Hier sprechen wir kein Spanisch!“

      José stöhnte und gab vor, verärgert zu sein. „Guten Abend, Chiara!“

      „So ist es besser. Wie sagt man ‚ he trabajado como un burro‘ auf Italienisch?“

      „Ah... Mmh, eso es ...“, erwiderte er, „es ist eine spanische Redewendung. Ich weiß nicht, ob sie auf Italienisch exista ...“

      „Versuche sie zu übersetzen.“

      José presste seine Lippen zusammen und schloss leicht seine Augen, um eine übertriebene Konzentration vorzugeben.

      „Alorra ...“

      „Allora, nicht , alorra‘„, korrigierte ihn Chiara.

      Er nickte. „Also, he trabajado wird zu ich habe gearbeitet ...“

      „Richtig.“

      „ Y como un burro se convierte en ... wie ein ... Pferd?“

      Chiara schüttelte ihren Kopf zum Nein.

      „ No me acuerdo ... nicht wie ein Pferd, sondern eher wie ein peque ñ o, jetzt hab' ich's, Esel!“

      Chiara konnte sich das Lachen nicht verkneifen, als sie seine kindliche Begeisterung sah. Er änderte seinen Gesichtsausdruck aber nicht, sondern beobachtete Chiara, wie sie spontan lachte.

      „Wir haben die gleiche Redewendung, aber es heißt nicht: ‚Ich habe wie ein Esel gearbeitet‘„, erklärte Chiara. „Auf Italienisch heißt es eher „ wie ein Maultier“. Aber ich finde, dass du den Satz gut übersetzt hast!“

      José wollte ihr mitteilen, dass er sich ihretwegen besserte. Stattdessen betrachtete er sie schweigend und ihr Lachen klang in seinen Gedanken weiter.

      Chiara senkte den Blick.

      „Schlage Seite 33 auf“, forderte sie ihn auf bevor sie verlegen wurde.

      Sie schreckte plötzlich aus dem Schlaf auf, richtete sich im Bett auf und sah auf die Uhr: Es war nach Mitternacht, aber ihr war nicht danach, sich wieder schlafen zu legen. Sie zog sich somit ihr Nonnengewand an, nahm eine Taschenlampe und verließ geräuschlos ihr Zimmer.

      Die Äbtissin mochte es nicht, wenn die Ordensschwestern nachts durch das Kloster liefen, es sei denn, es ging ihnen schlecht. Im Grunde fühlte sie sich nicht ausgesprochen gut, so dass es zulässig war, im Innenhof auf und ab zu gehen, um ihren nervösen Körper zu beruhigen.

      Sie legte die Taschenlampe auf den Boden, verschränkte ihre Arme und betrachtete den Vollmond, der von unzähligen Sternen umgeben war. Das Mondlicht küsste die Welt.

      Als sie den Kopf zum Himmel richtete, rutschte das schwarze Kopftuch nach unten und ähnelte in der nächtlichen Brise


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