Apostasie. Marie Albes
Der Abstand von der jungen Frau war auf jeden Fall ein Hauch frischer Luft.
Die fehlende geistige Ablenkung brachte ihn eifrig und zügig mit dem Durchsuchen verschiedener Bände weiter. Am Ende der Woche hatte er den Band aber nicht gefunden. Entmutigt und nervös begann er sich zu fragen, ob seine Arbeit umsonst war.
Vielleicht hatten sie es verliehen, entsorgt oder es hat nie existiert. In der siebten Nacht ging von der harten Arbeit geschafft sofort schlafen. Er hatte weder Kraft noch den Willen, die Suche in der Bibliothek fortzuführen.
Am nächsten Morgen gestand er sich ein, Sehnsucht zu verspüren.
Er erinnerte sich nicht an die Details seiner Träume dieser Nacht, aber ihm ging das Gesicht nicht mehr aus dem Sinn, das er gesehen hat kurz bevor er seine Augen öffnete. Es war kein anderes als das von Chiara.
Warum sollte er die Freundschaft zu diesem Mädchen mit dem lebhaften Blick aufgeben?
Was machte ihn in Chiaras Gegenwart nervös? Sie konnte keine Gedanken lesen, abgesehen davon, war sie eine Nonne, weder böse noch hinterhältig. Er gab keinen Grund, sich von ihrem Verhalten beunruhigen zu lassen, das außerordentlich ehrlich und direkt war.
Außerdem musste er weiter Italienisch lernen, um sich zu verbessern, redete er sich selbst ein, somit musste er den Unterricht mit Schwester Chiara wieder aufnehmen.
Beschlossen.
Wenn nach diesen arbeitsreichen Wochen die Äbtissin weiterhin den Unterricht verschiebt, würde er ihr anbieten, eine Stunde früher aufzustehen und das Doppelte zu arbeiten, um den Italienischunterricht besuchen zu können.
Doch sind die Gedanken schnell, sind die Taten umso träge.
Es war Montag-Nachmittag als sie sich endlich begegneten.
Chiara war in das naheliegende Dorf gegangen, um Einkäufe für das Kloster zu besorgen, darunter Nudeln, Milch, Mehl und Obst. Auf dem Rückweg schlug sie einen Weg durch die Äcker ein. Indem sie sich an dem Mai-Spaziergang beglückte, versuchte sie, das faltige Gesicht des Ladenbesitzers zu vergessen.
Herr Salvatore war ausgesprochen unhöflich zu den Ordensschwestern des Klosters. Seine Verachtung für das Gewand, das sie trugen, war nicht zu übersehen.
Als Chiara den Laden betreten hatte und er sich hinter der Theke umgedrehte, verdrehte er mit gereiztem Ausdruck sofort die Augen. Dann hatte er eine Dose mit Süßwaren auf das Regal knallen lassen, während seine Frau Michaela mit einem entschuldigenden Blick Chiara anschaute und mit den Schultern zuckte.
„Ähm, guten Morgen“, grüßte die junge Nonne höflich, aber es antwortete nur Michaela. Salvatore war beschäftigt, sich eine andere leere Dose zu nehmen und tat als würde er sie sauber machen.
„Guten Morgen“, versuchte es Chiara erneut, dieses Mal mit mehr Nachdruck, von seinem Verhalten aber leicht verstimmt.
„Ähm … Tag“, brummte er ohne aufzublicken.
„Ich hätte gerne einige Packungen Mehl. Können Sie sie wie gewohnt in das Kloster liefern?“
„Uff.“
„Ich nehme an, das ist ein Ja?“, kommentierte Chiara. „Ich benötige außerdem Zucker, bitte.“
„Drüben“, murmelte er und deutete mit einem Wink mit dem Kopf in eine Ecke des Ladens.
„Verstanden, ich hole ihn mir“, aber bevor sich Chiara bewegte, hatte sich die nette Michaela erhoben und war zum Regal gegangen.
„Wieviel?“
„Nur zwei Pfund, vielen Dank. Wir haben noch etwas im Kloster. Wissen Sie, ich möchte Plätzchen für die Schulkinder backen und möchte ich nicht die Vorräte verwenden.“
„... gebeten“, murmelte Salvatore und nuschelte Worte vor sich hin.
„Wie bitte?“, Chiara wandte sich zu ihm, der endlich seinen Blick hob, um ihr direkt die Augen zu mustern.
„Das hat sie niemand gebeten“, wiederholte er. „Wir sind nicht an ihren Tätigkeiten als guter Christ interessiert.“
Chiaras Pupillen weiteten sich empört und verdrossen. Sie fühlte die Wut in ihr aufsteigen.
„Können Sie mir erklären, was ich ihnen getan habe?“
Der Mann schaute sie herausfordernd an, antwortete aber nicht. Er wandte sich um und ging in den hinteren Ladenbereich.
„Verzeihen Sie ihm, Schwester“, entschuldigte sich seine Frau. „Manchmal kann er ausgesprochen unhöflich sein. Aber ich versichere Ihnen, er ist ein guter Mensch.“
„Das bezweifle ich nicht“, beendete Chiara das Gespräch. Sie schaute auf den Vorhang der Tür, die zum hinteren Teil führte, der noch wackelte und schließlich still stand.
Als Chiara in die Felder ging, war ihre Wut mittlerweile vergangen und sie dachte an Salvatore, indem sie eine Art Schwermut empfand. Sie verstand nicht, warum dieser Mann sie derart verabscheuend anschaute, als ob sie ihm Schlimmes getan hätte. Chiara war überzeugt, weder ihn noch ein anderes Familienmitglied respektlos behandelt zu haben.
Jedes Mal, wenn sie den Laden betrat, starrte Salvatore sie an als wäre sie ein Insekt, das so schnell wie möglich zerquetscht werden müsse. Die Äbtissin und die anderen Ordensschwestern mieden ebenfalls jenen Ort wegen der feindseligen Blicke. Es war der einzige Laden im Dorf, der gut ausgestattet war, weshalb die Ordensschwestern gezwungen waren, dort einzukaufen.
Jedenfalls war es in dieser Situation wichtig, ein reines Gewissen zu haben. Wenn Herr Salvatore sie und alle Nonnen verabscheute, war es sein Problem und nicht das von Chiara, die sich unschuldig fühlte.
An diesem Montag-Nachmittag bemerkte sie in der Ferne einen Traktor der Arbeiter. Sie näherte sich, um ihnen Obst anzubieten, das sie im Dorf gekauft hatte. Sie konnte ihre Absicht nicht zu Ende führen, denn etwas beziehungsweise jemand beanspruchte ihre volle Aufmerksamkeit, ohne die anderen Arbeiter im Geringsten wahrzunehmen.
José war dort, nicht weit von ihr. Diesmal hatte er sie wirklich nicht gesehen, da er in die Arbeit vertieft war.
Chiara errötete. Sie wusste, dass sie den Blick hätte abwenden müssen, sie betrachtete etwas Verbotenes, konnte aber nicht anders. Sie blieb reglos stehen und schaute ihm ebenso bewegungslos zu. Ihre Hand hielt den Korb mit den Einkäufen fest verschlossen, aus Angst, er würde ihr wegrutschen.
José kniete ohne Hemd, das seinen Oberkörper hätte bedecken können, unter der Sonne. Er säte mit einer solchen Sorgfalt, die ihr das Herz erfüllte.
‚ Dreh dich um!‘, sagte ihr der Verstand. ‚ Du darfst nicht hinschauen!‘ Aber sie konnte ihre Augen nicht von diesem Geschöpf Gottes abwenden. Er hatte einen ausgesprochen attraktiven Körperbau.
Sein Körperbau war perfekt und ausgesprochen muskulös, wie eine Statue einer biblischen Darstellung, zugleich aber diskret.
Seine Schulter, sein Arm und das Gesicht waren mit Erdflecken beschmutzt, so dass er wie ein Kind aussah. Chiara bemerkte auf der rechten Seite seines Bauches etwas Ungewöhnliches. Für ein paar Sekunden musterten ihre Augen diese Stelle. Es war eine Narbe, die mehr oder weniger so lang war wie die Kette von ihrem Rosenkranz. Sie gab seinem Körper und Gesicht etwas Bedrohliches, obwohl sein Gesicht nicht bedrohlich aussah.
Er hatte prächtige Haare, zerzaust und zwanglos wie er war. Für einen Augenblick wünschte sich Chiara, sanft mit ihren Händen durch seine Haare streifen zu können, Strähne für Strähne, um ihre Weichheit zu spüren.
Sie errötete noch mehr, während ihr Herz tyrannisch schlug, so dass sie eine Hand an ihre Brust nehmen musste.
‚ Herz, bleib ruhig! Willst du aus meinem Körper herausspringen? Beruhige dich bitte ...‘
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