Apostasie. Marie Albes

Apostasie - Marie Albes


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war.

      Als sein Blick Chiaras Augen begegnete, waren ihre Pupillen geweitet wie bei einem Schock. In der Tat war sie sichtlich erregt. Ohne einen Augenblick länger zu warten, drehte sie sich um, lief zu einem Hain bei den Feldern und versteckte sich dort. Chiara hatte kein klares Ziel. Warum lief sie weg? Sie verspürte ausschließlich, dass sie sich entfernen musste.

      ‚ Er wird mich missverstehen‘, redete sie sich mehrmals beim Laufen ein, ‚ er wird meinen Blick missverstehen.‘

      José zögerte nicht, er nahm sein Hemd, das er auf den Boden gelegt hatte, zog es sich schnell über und folgte ihr bevor sie sich zu weit entfernte.

      Als er sie sah, war sie über einen kleinen Fluss gebeugt und tauchte ihre Hände ins kühle Wasser. Sanft bewegte sie die klare Flüssigkeit und spritzte sie sich vorsichtig ins Gesicht, um sich an diesem heißen Mai-Tag zu erfrischen.

      José näherte sich ihr. Sie verharrte bewegungslos, obwohl sie seine Gegenwart wahrgenommen hatte.

      „Chiara“, sagte José als er hinter ihrer Schulter stand, „¿Por qué te has ido?

      Chiara wartete ein paar Sekunden bevor sie aufstand, um sicherzugehen, dass die Röte von ihren Wangen verschwunden war. Sie starrte auf sein welliges Spiegelbild im Wasser.

      „Man merkt, dass wir keinen Unterricht mehr hatten“, kommentierte sie, während sie ihm mit den Schultern zugekehrt war. „Du verfällst wieder ins Spanische.“

      José lächelte und legte ihr eine Hand auf die Schulter und bemerkte sofort, dass sich ihr Körper anspannte.

      „Du hast razón ...“, flüsterte er und wusste, dass er die Hand vom schwarzen Gewand nehmen musste, hatte aber nicht die nötige Willenskraft. „ Entonces denke, wir sollten mit dem Unterricht posible schnell weitermachen.“

      Chiara schwieg und konzentrierte ihre gesamte Energie auf seine Hand, die ihre Haut verbrannte, derart empfand sie.

      „ Estás ... Ist alles in Ordnung mit dir?“

      Es war Zeit, sich umzudrehen. Chiara legte ihre Hand auf seine, die noch auf ihrer Schulter lag. Sie erhob sich, während die starken Arme des jungen Mannes sie stützten.

      Als sie sich einander gegenüber standen, nahm Chiara Josés Hand und begleitete sie an ihren gewöhnlichen Platz und ließ sie schließlich los.

      „José, mir geht es gut“, antwortete sie und blickte vom Boden auf, um ihren Blick auf sein Gesicht zu richten. „Meinst du nicht, dass wir uns zu wenig kennen, um die Stimmung des anderen zu deuten?“ Chiaras Ton war ironisch und belustigt. José lachte als er die leichte Arroganz auf den Lippen dieser jungen Monja vernahm, die auf eine Unterrichtsstunde anspielte, die eine Woche zurücklag.

      Mensch, es war eine Ewigkeit.

      „ ¿Cómo se dice? ... Touché!“, fragte er und hob die Hände in den Himmel, während Chiara dieses Mal aufrichtig lachen musste.

      Sie fühlte sich ruhig und ungewöhnlich sicher, obwohl der Anspielung an Respekt fehlte, der für eine Nonne angemessen ist. Jetzt war sie in der Lage, mit José ein normales Gespräch zu führen.

      Leider schwanken im Leben sichere Situationen und ihre Ruhe hielt nicht lange an.

      Sie nahm bald wahr, dass sie ausgesprochen nahe beieinander standen und sein Hemd nicht zugeknöpft war. Ihr Gesicht errötete und sie starrte erneut auf ihre schwarzen Slipper.

      José sah auf seinen entblößten Bauch und begriff sofort, dass sie aufgrund dieser Unachtsamkeit verlegen war. Rasch knöpfte er sein Hemd zu und flüsterte ein perdóname für die Umstände. Er machte sich Vorwürfe, wie er sich derart nachlässig verhalten konnte. Ausgerechnet er, der gewöhnlich ein präzises und kontrolliertes Verhalten an den Tag legte.

      „So ist es besser“, bestätigte sie. „ Discúlpame für meine Nachlässigkeit und meinen ungepflegten Zustand.“ Er zuckte lässig seine Schultern. Schließlich lächelte er Chiara aufrichtig an, wobei seine Augen leuchteten und auflachten und sanft die Person musterten, der das Lächeln galt.

      „Ist schon in Ordnung“, erwiderte sie, starrte noch auf ihre Schuhe und wollte sich von ihm entfernen. Somit drehte sie sich um und ging ein paar Schritte.

      „ No te vayas“, versuchte er sie aufzuhalten, bevor sie zu weit entfernt war. „Geh bitte nicht! Warum setzen wir uns nicht aqui und unterhalten uns? Hast du Lust?“

      Chiara zögerte. Sie war sichtlich erfreut, Zeit mit ihrem ‚Lieblingsschüler‘ zu verbringen.

      ‚ Warum sollte sie auf die Gesellschaft einer netten Person verzichten?‘, dachte sie sich.

      Außer der jungen Nonne Claudia hatte sie keine wahren Freunde. Zweifellos waren die Ordensschwestern ein Teil ihres Lebens, aber sie waren ausschließlich geistliche Schwestern. Von ihren Freunden aus ihrer Kindheit hatte sie sich zusammen mit ihrer Familie verabschiedet, als sie dem Kloster beigetreten war.

      Aber da erscheint José Velasco als neue Präsenz in ihrem geradlinigen Leben, eine kluge und amüsante Person. Was sollte sie hindern, seine Freundin zu sein? Es gab keinen Grund.

      Es war wie die Freundschaft zwischen einem Mönch und einem Pfarrer. Sie sind ebenfalls Menschen. Kein Gesetz verbietet einer Nonne, mit jemandem befreundet zu sein, solange es kein Interesse von bestimmter Art gibt. Ihrerseits gab es kein bestimmtes Interesse für José Velasco. Nichts, Punkt.

      „Okay“, antwortete sie und drehte sich mit einem breiten Lächeln um, das ihre Iris in schillernden Farben erleuchten ließ.

      José setzte sich an den Fluss und Chiara tat es ihm nach, während sie sich einen halben Meter von ihm entfernt hielt.

      „ Entonces, Chiara. Wann beginnen wir mit den lecciones? Ich will nicht dimenticarme, was ich gelernt habe.“

      „Du hattest diese Woche zu tun gehabt, hat man mir gesagt“, erwiderte sie. „Ab der nächsten Woche können wir den Unterricht wieder aufnehmen, wenn die Äbtissin einverstanden ist.“

      José riss einen Grashalm ab und nahm ihn in den Mund, legte sich hin und verschränkte seine Hände hinter dem Kopf. Schließlich betrachtete er den Himmel, der sich langsam rot färbte und den bevorstehenden Sonnenuntergang ankündigte.

      „Berichte mir aus deinem vida, Chiara“, bat er sie, während die Sonne ihren Abstieg ins Reich der Dämmerung nahm.

      Chiara hatte nicht mit einer solchen Frage gerechnet, zumal ihr Leben nicht aufregend war. Konnte ein Mann wie er an ihrem Leben interessiert sein?

      Sie war sich nicht ganz überzeugt und José stellte sich die gleiche Frage. Er wollte in diesem Augenblick nichts anderes tun, als die Augen schließen und Chiaras Stimme lauschen. Selbst seine Planung, wie er den Schlüssel finden könne, konnte warten.

      „Es tut mir gut, italienische Wörter zu escuchar“, fügte er hinzu, um seine Neugier zu verbergen und sie nicht weglaufen zu lassen.

      ‚ Zum Lernen bestimmt‘, dachte Chiara und begann zu erzählen.

      Sie erzählte ihm von ihrem kleinen Dorf, das einer Krippe glich und nicht zur wahren Welt gehörte.

      „Es gibt ein paar Orte auf der Erde, an denen die Zeit stillsteht“, erklärte sie mit klarer Stimme. „Wenn du dort wohnst, fühlst du dich weit entfernt von den Metropolen und vom Chaos der Welt, die uns umgibt. Es ist wie in einer Oase, José: Nichts Schreckliches kann dir etwas anhaben. Zumindest denkst du es als Kind.“

      Josés Hand zitterte, während er ihr zuhörte, wie sie mit Überschwang erzählte. Er öffnete seine Augen und fühlte sich nah bei Chiara, die konzentriert das fließende Wasser betrachtete. Er hätte sie an sich drücken wollen, um ihr für einen Augenblick den Eindruck zu schenken, sich in einer friedlichen Oase zu befinden.

      Er rührte sich nicht und schloss seine Augen.


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