Apostasie. Marie Albes

Apostasie - Marie Albes


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Janine Occelli-Vieler

      

      Dieses Buch widme ich meiner

      fabelhaften Mutter,

      denn ohne sie

      wäre es nie entstanden.

      

      

      Vielen Dank Maman!

      Zusammen mit Papa bist du meine Kraft.

       Vor ein paar Jahren reiste ich mit meinen Eltern und meiner Schwester in die Toskana. Wir verweilten in einem Dorf, das auf einem Hügel erbaut war und von einem riesigen Turm überblickt wurde, dessen Uhr die Lebenszeit tickt.

       Hinter dem Turm umgab ein verwilderter Garten ein unbewohntes Schloss, dessen Wände steil über dem darunter gelegenen Tal ragten.

       Wir pausierten für eine halbe Stunde, um uns vom Panorama und der seltsamen Nostalgie der Umgebung verzaubern zu lassen. Schließlich ging unser Ausflug weiter.

       Ich stolperte über einen Stein und fiel zu Boden. Wollte es das Schicksal? Schmunzelnd wandte ich mich an meine Familie, die sich über mein Missgeschick amüsierte. Ein kleiner Felserweckte mein Interesse, der von der Wurzel einer Linde umwachsen war. Beim genaueren Hinschauen bemerkte ich einen geschnitzten Holzgegenstand, der aus der Erde ragte. Neugierig näherte ich mich dem Fund. Mit den Fingern und anschließend mit einem flachen Stein fing ich an, ihn auszugraben.

       Meine Eltern und meine Schwester schauten mir verwundert zu. Nach ein paar Minuten zog ich eine kleine Holzschachtel aus der Erde, deren Metallgelenke an manchen Stellen mit Rost besetzt waren.

       Mein Herz raste: Wie jeder Teenager war ich anfällig für die Geheimnisse des Lebens. In diesem Moment hatte ich einen Schatz entdeckt, den ich beabsichtigte, sorgfältig zu behüten.

       Ich öffnete die Schachtel und fand ein Bündel handgeschriebener Blätter, manche zerrissen, andere an den Rändern gealtert. Das Papier ist mit der Zeit gegilbt und brüchig geworden. Die Schreibart hingegen strotzte vor Arroganz und Lebenslust.

       Sofort fiel mir die emotionale Stärke des Verfassers auf. Zuhause fing ich an, die Seiten zu lesen, besessen von der Stimme, die in meinem Geist erzählte.

       Die Geschichte, die ich Euch berichte, ist diesem Manuskript entnommen, das die Witterungseinflüsse von Leben und Tod überstanden hatte.

       Im Grunde ist das Gedächtnis die einzige Form des Unvergänglichen, die wir kennen.

      Freiheit,

      die intensivste Farbe.

      

      

      uno

      Ein schwacher Lichtschleier durchdringt die Fensterrosen der Kirche und färbt alles mit gläsernen, warmen Farben. Sie lassen alles weit entfernt erscheinen, wie das Paradies auf Erden, versteckt vor dem blauen Himmel. In ihrem verdorbenen Herzen ist das Paradies mittlerweile ausgeschlossen.

      Chiara kniet mit gesenktem Kopf und betet zu Gott, der sie erhören muss. Er, der in den vergangenen Jahrhunderten barmherzig war, wie auch in der Gegenwart, trotz der Geschehnisse in dieser Welt.

      „Gib mir die Kraft!“, in Tränen drückt sie den Rosenkranz fester. Aber bald trocknet sie sich die rosigen Wangen mit dem Bemühen, beherrscht oder zumindest ausgeglichen zu wirken.

      Dann hört sie den Hall von Schritten hinter ihrem Rücken. Zum ersten Mal erschreckt sie sich vor dem in der Kirche typischen Geräusch, die von glücklichen Gemütern sowie Menschen auf ihrer Suche nach Frieden und Trost aufgesucht wird.

      Ruckartig dreht sie sich um, um zu sehen, wer es ist. Es ist ein alter Mann, der sich in die Reihe neben ihrer Reihe kniet, um mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen zu beten.

      Flüchtig schaut er sie an, bevor er sich in sein Gebet vertieft. Aber Chiara ist überzeugt, dass dieser Blick eine Art Vorwurf ist. Alle sehen sie mittlerweile vorwurfsvoll an: die Welt und vielleicht sogar Gott. Vor allem er.

      Sie wischt sich eine weitere Träne weg. Erneut starrt sie auf die Fensterrose, als wäre sie ein Bote des Himmels.

      Der Sonnenuntergang hat seinen Höhepunkt erreicht. Ein intensiver Sonnenstrahl durchdringt die Fenster und färbt Chiaras Haare karmesinrot und rosa, ähnlich einer Blüte, die im Frühling zum Leben erblüht.

      Ihr rutscht eine Strähne aus dem Zopf. Eilig steckt sie diese hinter ihr Ohr. Sie nimmt sich vor, sich zu beherrschen und wieder heiter zu werden, genau wie einst.

      „Gib mir Kraft“, wiederholt sie in einem Flüstern, das wie ein Schrei in dieser religiösen Stille klingt.

      Dann dreht sie sich erneut um, um zu sehen, ob der Mann sie gehört hat. Dieser ist reglos in seinem Gebet versunken.

       Im Frühling eines gottverlassenen Jahres sprach man zuerst in einem kleinen toskanischen Dorf, dann in der gesamten Region und schließlich im gesamten Land über nichts anderes als über den Mord an Elena Gentile. Sie war in einer kleinen Dorfkirche tot aufgefunden worden.

      Ausserordentlich Hübsch, selbst im gewaltsamen Tod

       hieß die Schlagzeile einer Zeitung,

      Mord in einem Kloster

       hieß ein anderer Titel, selbst wenn es sich gar nicht um ein Kloster handelte.

      Das Geheimnis des Falls Elena Gentile

       las man in Großbuchstaben in einer anderen Zeitung. Es wurde keine Rücksicht auf das Gefühlschaos derjenigen genommen, die den Fall kannten, noch auf das Leiden der Personen, die mit Elena Gentile eng verbunden waren.

       Wie dem auch sei, alle fragten sich:

      Was ist Elena Gentile tatsächlich zugestossen?

       Die süße, starke und charismatische Elena Gentile wurde leblos zu Füßen des gekreuzigten Jesus Christus aufgefunden.

       Er kannte die Wahrheit, konnte aber nicht reden.

      dos

      Vor zwanzig Jahren, zehn Jahre nach Elena.

      Die freundlichsten Stimmen nannten sie Schönauge; Skeptiker, die im Schönsein einen Fehler sahen, nannten sie das Mädchen mit den sonderbaren Augen. Bezaubernd waren Chiaras Augen auf jeden Fall. Ihre dunklen, südländischen Wimpern wurden durch ihre braunen Haare betont, die von honigblonden Strähnen markiert waren. Das seltsame der Augen waren die verschiedenfarbigen Iris. Die Iris von Chiaras rechtem Auge war schimmernd hellbraun wie Tee. Das linke Auge hingegen war zur Hälfte mit tannengrünen Flecken gesprenkelt und mischte sich mit der Teefarbe wie ein Tropfen Öl mit Wasser: die Transparenz der Flüssigkeit kontrastiert sich zur energischen Welle.

      Wer Chiaras Augen begegnete, blieb nicht gleichgültig gegenüber diesen beiden Perlen ihres reinen, aufmerksamen Blicks, derart hoben sie sich in ihrem lächelnden Gesicht ab.

      „Um Gottes Willen, wie kann ich Nein sagen, wenn du mich so ansiehst?“, war der Satz, den sich ihr Vater regelmäßig sagen hörte, wenn das süße Mädchen ihn um ein Geschenk wie eine Puppe oder ein Buch bat.

      Vielleicht wurde sie als kleines Mädchen aus diesem Grund von allen in ihrem Geburtsort derart geliebt. Selbst diejenigen, die sie „das Mädchen mit den sonderbaren Augen“ nannten, blieben von den honigfarbenen Locken verzaubert, welche weich das Wesen der achtjährigen Chiara widerspiegelten. Oft spielte sie am Brunnen des Dorfplatzes und machte sich nass wie ein Entenküken.

      Jedes Mal wenn sie durchnässt nach Hause kam, wurde sie von ihrer Mutter ausgeschimpft. Chiara hielt den Kopf gesenkt.


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