Apostasie. Marie Albes

Apostasie - Marie Albes


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      Dies war ihre emotionale Auslegung für ihr Verachten der Nacht, hinzu kam noch die wissenschaftliche Erklärung:

      Während tagsüber alles hell und klar ist, und somit leicht kontrollierbar, waren die Schatten der Nacht vage. Der menschliche Geist weiß schwer einzuschätzen, was er nicht kennt.

      Um das Bild zu vervollständigen, gab es den religiösen Aspekt ihrer Kultur. Sie lehrte, dass sich das Böse (so nannten es ihre Mutter und ihre Freundinnen) nicht hinter einem Sonnenstrahl versteckte, sondern eher hinter einer Wolke, die das Mondlicht verschleierte.

      Chiara wusste als die Tragödie passierte nicht, ob es aufgrund der Literatur, der Wissenschaft oder des Bösen geschah.

      Tatsache ist, dass sie die Nacht verabscheute.

      

      

      Chiara erinnert sich deutlich an jenen Augenblick, als wenn es gestern passiert wäre: zuerst die läutenden Glocken um ein Uhr nachts, die sie aus dem Schlaf weckten. Dann das düstere Gesicht ihres Onkels im Türrahmen und das Weinen ihres Bruders Alberto, als dieser die Nachricht vernahm.

      Dann kam alles wie im Flug: Sie stieg in das Auto des Onkels, in welchem Alberto bereits auf dem Rücksitz wartete. Die Blaulichter, der Krankenwagen vor dem Krankenhaus, die quietschenden Räder der Krankenbahren in Richtung Notaufnahme, als würden sie Ware tragen und schließlich das Wort, das ihr gesamtes Lebens veränderte: Koma.

      

      

      An diesem Juni-Abend waren ihre Eltern mit Freunden zum Abendessen ausgegangen, während Chiara und Alberto zu Hause geblieben waren, um zu lernen. Chiara stand vor ihrem Abitur und Alberto hatte die Prüfung zur Oberstufe vor sich. Sie wollten lernen.

      Aber auf dem Rückweg ihrer Eltern passierte es. Das Krankenhaus berichtete, dass ein LKW auf der Straße umgekippt war, die sie auf ihrem Nach-Hause-Weg genommen hatten. Die Kollision war unvermeidlich.

      Viele Schläuche für die Infusion und viele elektronische Maschinen mit schrillen Tönen bekam Chiara in diesen endlosen Tagen vor Augen. Es vergingen lange, düstere Stunden, ohne dass die Eltern aus aufwachten.

      „Sie liegen im Koma“, hatte der Arzt an dem Abend bedauernd mitgeteilt. „Die Situation ist ernst, aber stabil. Es besteht die Chance, dass sie sich erholen. Ich will dir aber keine Hoffnung machen.“

      Chiara nickte mit dem Kopf und brachte kein Wort heraus.

      

      

      Es vergingen Wochen in diesem qualvollen Stillstand. Chiaras Leben reduzierte sich auf ein Zimmer im Krankenhaus und auf das Piepen vom Elektroenzephalogramm ihrer Eltern. Einerseits verlor es nicht an Frequenz, andererseits erhöhte sie sich nicht.

      Chiara war ohne sie verloren. Sie konnte nicht zulassen, dass ihre Eltern sie auf diese Weise verließen. Sie fühlte sich hilflos in dieser Situation, wie ein Blatt, das sich vom Baum löste. Es kann nichts anderes tun, als zu Boden fallen und sich vom Wind tragen zu lassen.

      Es gab allerdings eine Möglichkeit, die sie noch nicht versucht hatte. Sie hatte sich im Strudel der Ereignisse verloren. Es handelte sich darum, die Person, die im Himmel lebt um Hilfe zu bitten, den Herrn. Sie war überzeugt, dass er ein offenes Ohr hat. Eines Morgens kam sie im Eilschritt aus dem Krankenhaus und ging zur nächstgelegenen Kirche.

      Nach Atem schnappend durchlief sie die Kirche und kniete sich vor die Füße Christi. Mit ergreifender Intensität begann sie zu beten.

      Außergewöhnlich war, während sie ihre Gedanken darlegte, fühlte sie sich endlich besser. Zuversichtlich, dass ihr jemand zuhörte.

      Jedoch zeigte sich keine Besserung.

      Sie betete eine weitere Woche, betete in der Kirche, betete im Krankenhaus oder abends vor dem Schlafengehen und forderte Alberto auf, dasselbe zu tun. Der Herr wollte sie nicht erhören. Chiara konnte es nicht ertragen, überzeugt wie sie war, dass er ihnen helfen würde. Aber dann begriff sie (warum hatte sie nicht schon früher daran gedacht!). Vielleicht musste sie eine Gegenleistung geben, um eine solche Gnade zu erhalten.

      Somit dachte sie stundenlang darüber nach, was sie dem Gott bieten könne, dem sie so zugetan war. Aber alles war trivial im Vergleich zum Leben ihrer Eltern.

      Geldspenden hielt sie für erbärmlich und ihre Gebete nicht ausreichend. Es gab nur eines, was das Leben ihrer Eltern gleichwertig sein konnte: Es handelte sich um nichts anderes als ihr eigenes Leben. Sie ging auch an diesem Tag in die Kirche und kniete sich wie vor wenigen Tagen zu den Füßen Christi nieder.

      „Ich schwöre, dass ich dir mein Leben bieten werde“, flüsterte sie mit Nachdruck. „Ich schwöre, dass ich mein Leben verbringen werde, um anderen zu helfen und ein Gewand tragen werde, welches mich an deinen Namen bindet, oh Herr. Aber ich flehe dich an, rette meine Eltern!“

      Chiara wusste nicht, ob dieser Schwur reichen würde, ihre Mama und ihren Papa zu retten. Für sie bedeutete es kein wahres Opfer, denn ihr Glaube war stark. Sie hatte aber nichts anderes, was sie ihm bieten konnte: Der Herr forderte keine extremen Leistungen, die den eigenen Tod bedeutet hätten, im Gegenzug für das Leben ihrer Eltern, dem war sie sich sicher.

      

      

      Sie wusste nicht, ob es Zufall war: ob es die Entscheidung der Glücksgöttin oder aus Gnade Gottes war. Tatsache war, dass sich der Gesundheitszustand von Chiaras Eltern sich wenige Tage nach dem Versprechen, das Chiara dem Herrn gegeben hatte, besserte.

      Dadurch war die Situation leichter zu bewältigen. Ihr Herz erwärmte sich und sie war sich gewiss, dass ihr der Herr geholfen hatte.

      Es vergingen mehrere Monate bis Mario und Cristina (so hießen die Eltern von Chiara) nach Hause kamen. Als dies geschah, feierte das gesamte Dorf ihr neu gewonnenes Leben. Drei Wochen nach ihrer Rückkehr vereinte Chiara ihre Familie, um ihre große Neuigkeit bekanntzugeben.

      „Ich habe beschlossen, nach dem Abitur mein Gelübde abzulegen“, teilte sie mit fröhlicher und zittriger Stimme mit. „Ich werde nicht zu Hause wohnen können. Wenn ich aber Glück habe, schicken sie mich in ein Kloster in der Nähe.“

      Alle waren von ihrer plötzlichen Entscheidung überrascht. Sie hatten Mühe, sich Chiaras hübsches Gesicht umrahmt von einem schwarzen und weißen Schleier vorzustellen. Aber ihre Entscheidung bereitete einer religiösen Familie wie der ihren eine Ehre.

      „Ich habe mit gewünscht, dich in einem Brautkleid zu sehen“, erwiderte ihre Mutter enttäuscht, stand auf und ging auf sie zu. „Aber die Ehe, für die du dich entschieden hast, ist das reinste und tiefste Bündnis, das man eingehen kann, denn diese Ehe bringt dich unserem Herrn näher.“

      Chiaras Eltern wurden in den folgenden Tagen von Bedenken geplagt. Seit jenem Abend dachten sie an nichts anderes als an die plötzliche Entscheidung ihrer Tochter.

      „Bist du dir sicher was du tust?“, fragte ihr Vater eine Woche nach der Offenbarung.

      „Natürlich. Warum fragst du das, Papa?“

      „Deine Entscheidung ist ehrwürdig. Trotzdem ist es eine schwere Entscheidung und du könntest sie eines Tages bereuen. Du bist noch so jung ...“

      Chiara lächelte. „Ich bin jung, das stimmt, aber ich weiß, was ich will. Es ist dies, was ich mir wünsche.“

      Mario hatte den Blick seiner Tochter geprüft, um etwas zu finden, das ihm vielleicht entgangen war. Aber nichts trübte Chiaras seltsamen und bezaubernden Augen.

      „Das Wichtigste ist, dass du dir sicher bist und nach vorne schaust, mein Schatz“, bestätigte er sie in ihrem Vorhaben und streichelte ihre Wange.

      „Das bin ich und es gibt nichts Bezaubernderes als die Liebe zu Gott und zu meiner Familie.“

      Mario lächelte verlegen. Die Worte seiner unbefangenen Tochter beeindruckten ihn, aber ein Teil von ihm war nicht überzeugt.

      ‚


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