Apostasie. Marie Albes

Apostasie - Marie Albes


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Am Strand, auf dem Sand, nicht an der Promenade.“

      „ Weitere Wünsche?“

      „ Du hast den Führerschein, ich nicht.“

      „ Und warum sollte ich das?“

      „ Weil ich deine Lieblingsschwester bin und du nicht Nein sagen kannst.“

      „ Du bist die einzige Schwester, die ich habe. Das bedeutet noch lange nicht, dass du meine Lieblingsschwester bist.“

       Beide schmunzelten.

       Das Problem war, dass Michele ihr wirklich nichts abschlagen konnte. Ohne Weiteres hinzuzufügen stand er auf und zog sich einen Jogginganzug an. Elena wartete an der Tür und klopfte mit einem Fuß leicht auf den Boden, um ihn zur Eile zu drängen.

       Als sie sich im Garten befanden, legte Michele im Auto den Leerlauf ein. Gemeinsam schoben sie das Auto auf die Straße, wo sie es starteten konnten, ohne jemanden aufzuwecken.

      „ Ist dir klar, dass wir vier Stunden hin und zurück fahren werden? Dein Strandspaziergang wird somit nicht länger als fünf Minuten sein.“

      „ Nur fünf Minuten, du hast Recht. Es werden die intensivsten fünf Minuten seit langem sein und vor allem verbringen wir sie zusammen.“

       Das Fenster war geöffnet. Die blonden Haare von Elena flatterten im Fahrwind, fast als suchten sie in dieser Frühsommernacht die Flucht.

      „ Du wirst mir fehlen, weißt du“, offenbarte sie und drehte sich zu ihrem Bruder. „Wenn Du gehst, und mittlerweile ist es nicht mehr lange, bleibe ich allein zurück.“

      „ Du wirst nicht alleine sein, Elena! Mama und Papa sind auch da. Außerdem gehe ich nicht weit weg.“

      „ Nein, gewiss werde ich nicht allein sein“, beteuerte sie und drehte sich wieder zum Fenster. „Du bist aber der Einzige, der mich versteht.“

      „ Ich werde nicht weit weg sein. Außerdem wirst du mit Lernen beschäftigt sein und nicht mehr an mich denken.“

      „ Du weißt genau, dass das nicht stimmt.“

       Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend, jeder in den eigenen Gedanken verloren. Am Strand stieg Elena aus noch bevor Michele den Motor ausschaltete. Barfuß lief sie im Sand, während sie ihre Sandalen an den Riemen hielt.

       Michele stieg gelassen aus (er hatte einen ruhigen Charakter). Er ergötzte sich am Anblick seiner Schwester, die fröhlich geradewegs zu den nächtlichen Wellen des Tyrrhenischen Meers rannte. Ihr Haar flatterte wie ihr Kleid im Wind.

      „ Auf, Michele!“, rief Elena, drehte sich um und winkte fordernd, ihr zu folgen. Dann schmiss sie sich samt ihrer Kleider mit einem amüsierten Lächeln im Gesicht ins Meer. Als ihr Bruder sie am Wasser erreichte, zwang sie ihn, ihr gleichzutun und riss an seinem Arm.

       Silberne Wasserspritzer zersprangen in der Luft; das Lachen von zwei jungen Personen, beleuchtet vom Mondschein. Bruder und Schwester, die sich in einem kurzen Moment des Wahns vergnügten und sich ihrer bevorstehenden Trennung bewusst waren.

      „ Spürst du es?“, fragte Elena während sie an der Küste entlang liefen und versuchten, trocken zu werden.

      „ Was?“, erwiderte Michele.

       Elena schloss die Augen ohne anzuhalten.

      „ Das Leben. Das bedeutet zu leben: sich frei und glücklich zu fühlen. Mit dem Glücksgefühl im Herzen Kälteschauer auf der Haut zu spüren.“

       Michele wusste nicht was er erwidern sollte, fühlte sich aber von den Worten seiner Schwester erfüllt. Er war stolz auf ihre Weisheit und ihre Lebensfreude. „Du hast Recht“, flüsterte er bloß und strich ihr durchs Haar.

      „ Lele, meinst du ich werde mich je verlieben?“, fragte sie und öffnete ihre Augenlider.

       Michele lächelte. „Da bin ich mir nicht sicher.“

      „ Und wie ist die Liebe?“

      „ Sie ist schön, Elena, in all ihren Formen.“

      „ I ch meine nicht in all-ihren-Formen, Lele. Die kenne ich bereits im Leben zum Bruder und zu Freunden ... ach ja, und zur Familie“, erklärte sie wenig überzeugt. „Aber ich kenne die wahre Liebe nicht. Die Liebe zu einem Mann, der mich genauso liebt, wie ich ihn liebe.“

      „ Du bist noch jung, du wirst sehen, dass sie bald kommen wird.“

      „ Unsinn, das Alter spielt keine Rolle.“

      „ Das ist wahr, wahrscheinlich hast du Recht ... Aber mach dir keine Sorgen, Elena. Wenn sie kommt, weißt du es sofort.“

      „ Und wie weiß ich das?“

      „ Ganz einfach, von einem Kokon wirst du zu einem Schmetterling.“

      

      

       Als sie in der Morgendämmerung nach Hause kamen, dachten Michele und Elena, dass ihre Eltern noch schliefen. Als sie aber die knarrende Eingangstür öffneten, erwartete sie ihr Vater bereits mit verschränkten Armen und strengem Blick.

      „ Wo seid ihr gewesen“, fragte er ohne den Frageton zu verwenden, sondern den Befehlston. „Es war deine Idee, nicht wahr?“, wandte er sich an Elena. Ihr trotzender Blick irritierte ihren Vater mehr als alles andere. Mit einem Schritt ging sie auf ihn zu.“

      „ Ehrlich gesagt war es meine Idee“, fiel Michele dazwischen bevor die Situation ausartete.

       Er wusste, dass sein Vater niemals die Hand gegen den zweiten Mann der Familie richten würde. Ihn hätte jedoch nichts gehalten, seiner Schwester eine schallende Ohrfeige zu verpassen.

      „ Ich konnte nicht schlafen und wollte spazieren gehen ... Ich habe Elena gefragt, ob sie mich begleite, um etwas Zeit miteinander zu verbringen, da ich bald fortgehe.“

       Ohne weitere Worte drehte sich der Vater um. Er ging zurück ins Schlafzimmer und ließ Michele und Elena allein.

       Sie umarmte ihn.

      „ Danke, Lele... Du bist mein Held.“

       Er streichelte ihren Kopf. „Du bist mein kostbarster Schatz, obwohl du mich oft in Schwierigkeiten bringst.“ Er hörte sie kichern. „Geh jetzt schlafen, du musst bald in die Schule!“

       Elena ging die Treppen hinauf, drehte sich um und blies ihm mit der Hand einen Kuss zu. Sie ging hoch und legte sich ins Bett.

      

      

       Elena hatte Recht: Es war herrlich zu leben und es lohnte sich, Nächte wie diese zu erleben.

      

      

      cuatro

      Vor zehn Jahren, zwanzig Jahre nach Elena.

      Es war tiefe Nacht als die Tragödie passierte; Chiara hasste die Nacht.

      Vor allem passierten in den Büchern, die sie als Kind gelesen hatte, die schlimmen Dinge immer bei dunkler Nacht. Auch prasselnder Regen oder ein Rabe in der Nähe bedeutete nichts Gutes. Aber eigensinnig widmete sich vor dem Schlafengehen beängstigender Literatur. Dadurch wollte sie sich ihrer Angst vor der Dunkelheit stellen, sowie dem, was die Literatur hergab.

      Dies hielt so lange an, bis sie eines nachts, im Alter von zwölf Jahren Albträume hatte. Diese waren so haarsträubend, dass


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