Apostasie. Marie Albes

Apostasie - Marie Albes


Скачать книгу
Schließlich schaute sie mit tränenden Augen auf. Selbst die Mutter konnte nicht mehr mit ihrer Predigt fortfahren, sondern schloss sie in ihre Arme und brachte sie zur Badewanne. Nach dem Trockenrubbeln flocht sie ihr gewöhnlich die Haare zum Zopf, den sie selbst nach zwanzig Jahren auf dieselbe Weise trug.

      

      

      Jeden Sonntag besuchte sie die Messe.

      In ihrem Dorf, fern von Großstädten, die sie ausschließlich aus Bildern kannte, waren alle Einwohner streng katholisch gläubig. Und mit allen meine ich alle: vom Metzger zum Leichenbestatter, vom Gemüsehändler bis zum Dieb, vom Friseur bis zur Hure. Seltsam war, die Dorfbewohner in der kleinen Dorfkirche vereint zu sehen, nahe beieinander und kunterbunt in ihrer verschleierten Heuchelei.

      Menschen, die sich hassten, Menschen, die sich fürchteten, Menschen, die sich betrogen. Aber sie waren anwesend, um sich gemäß Gottes Wille das Zeichen des Friedens auszutauschen.

      Am Morgen eines Feiertages begriff Chiara, wie ergeben sie sich gegenüber der Person fühlte, die im Himmel lebte (dies war ihr Bild von Gott). Chiara wusste nicht, was Heuchelei ist und betrachtete die Zusammenkunft der Menschen als ein kostbares Geschenk, das nicht zu verachten war.

      Vor wenigen Tagen hatte sich ihr Vater mit dem Onkel gestritten, der nahe bei ihnen wohnte. Nach einem regen Wortgefecht, welches Chiara in einem Nachbarzimmer mitgehört hatte, redeten die beiden Brüder nicht mehr miteinander. Die Zimmerwand hatte sie vor dem Anblick geschützt, aber nicht vor der Enttäuschung. Die Erwachsenen verhielten sich eigenartig!

      „Es kann nicht wahr sein, Gott“, hatte sie mit Tränen in den Augen geflüstert, „die sind blöd!“

      An diesem Sonntag, aus irgendeinem seltsamen Grund, reichten sich im Haus des Herrn im Zeichen des Friedens ihr Vater und ihr Onkel die Hände und redeten seitdem erneut miteinander. Sie waren überzeugt, auch zukünftige Streitereien, die ihnen das Leben bringen würde, zu bewältigen.

      

      

      Denn es gibt nicht ausschließlich die Heuchelei; es gibt auch die Vergebung.

      

      

      „Du hast mich erhört!“, bemerkte sie an diesem Abend glücklich bevor sie schlafen ging und krempelte sich die Bettdecke bis zum Mund hoch. „Du weißt, wie wichtig mir ihr Frieden ist. Danke, dass du mich erhört hast!“.

      

      

      Von diesem Moment an wusste Chiara, dass Gott alles vollbringen konnte. Sie war überzeugt, egal was sie ihn fragte, sofern Gutes, dass er es ihr gewähren würde, einschließlich dem Glücklichsein.

      tres

      Vor eineinhalb Jahren, Neunundzwanzigeinhalb Jahre nach Elena.

      Chiara kehrte mit klopfendem Herzen in ihr Zimmer zurück. Ein Gefühl der Erschöpfung belastete ihre Seele und ihren Körper.

      Sie wünschte keine Besuche, schloss schnell den Türriegel und setzte sich auf das Bett.

      Nachdem sie sich das Kopftuch abgenommen hatte, hob sie den Ärmelsaum der Tunika an, um ein kleines, steifes Silberarmband freizulegen, das ihr rechtes Handgelenk zierte. Sie betrachtete es lange, ließ den Stoff nach unten gleiten, stand auf und starrte auf die Tür.

      Diese war verriegelt, so dass niemand ohne ihre Erlaubnis das Zimmer betreten konnte.

      Sie hob einen Teil der Matratze an. Zwischen Matratze und Lattenrost zog sie ein weißes Bündel hervor. Sie legte es auf die Bettwäsche und öffnete es. Es enthielt ein paar Jeans und einen weißen Pullover, der am linken Ärmel mit Schokolade befleckt war. Sie lächelte zuerst bei den Erinnerungen, dann wurde sie ernst und traurig.

      Erneut blickte sie zur Tür (um sicher zu gehen), zog sich die Tunika aus und die Jeans sowie den Pullover an. Sie spürte die Kleider an ihrer Haut anliegen, wie die Rüstung eines mittelalterlichen Ritters: stark und sicher.

      Im Zimmer hatte sie keinen Spiegel, der ihr erlaubte, sich in voller Größe zu betrachten, sondern nur einen kleinen für das Gesicht. Sie nahm ihn von der Wand und beschaute das Spiegelbild von jedem Teil ihres Körpers, indem sie ihn von unten nach oben wandern ließ.

      In Höhe des Gesichts hielt sie inne. Ihre Melancholie und der Terror, den sie sah, gefielen ihr nicht. Sie hängte den Spiegel zurück an die Wand. Die Rückseite ließ sie zu ihr gerichtet, damit nicht der geringste Schatten gespiegelt werden konnte.

      Mit einem Seufzer des Unbehagens ließ sie sich auf das Bett fallen. Ihre Gedanken gruben in ihrer Vergangenheit und wanderten von ihrer Kindheit und Jugend bis zum heutigen Tag.

      Noch immer wohnten ihre Mutter und ihr Vater in ihrem Dorfhäuschen auf dem Lande. Sie dachte an jenen Sonntag in der Kirche, als alles perfekt war, dank der Kraft Gottes. Sie erinnerte sich an ihren ersten Tag hier, bereit, um sich einem neuen und vor allem vollkommen anderen Leben zu widmen.

      „Chiara, es ist Zeit für das Abendessen“, eine Stimme auf der anderen Seite der Tür rüttelte sie aus ihren Gedanken.

      „Ich bin heute Abend nicht hungrig“, antwortete sie.

      „Du weißt, dass du nicht in deinem Zimmer bleiben kannst, wenn es Zeit ist, sich zu versammeln ...“

      Claudias Stimme (schlaue Freundin seit ihrem ersten Tag) hatte einen leicht besorgten sowie bedauernden Ton. Sie hatte Recht.

      „Ich komme sofort“, erwiderte sie schnell.

      Sie stand auf, zog sich ihr Gewand an und legte Jeans und Pullover zurück in das Geheimversteck. Gedankenlos band sie ihre Haare zum gewöhnlichen Zopf zusammen und ließ sie unter dem Kopftuch verschwinden. Sie versuchte sich zu erinnern, was sie zu dieser Entscheidung geführt hatte.

      Sie wusste es nicht mehr.

      Als sie aus dem Zimmer kam und die Tür schloss, gestand sie sich ein, dass nicht ihr Gedächtnis vergessen hatte, sondern ihr Herz.

      Für ein Mädchen wie sie war dies der entscheidende Unterschied.

      

      

      Kokon

      Elena verlangte kein außergewöhnliches Leben zu führen, sondern wünschte sich von jemandem geliebt zu werden. Alle kannten sie als Amazonen-Kriegerin, die bereit war, die Welt zu erobern. Ihre Seele hingegen war eher ruhig, wenn Elenas Eltern ihr erlaubten, was sie wollte.

      Ja, ihr einzig wahrer Grund war, eine Rebellin zu sein .

       Aber was ist letzten Endes falsch an dem Wunsch, frei zu sein?

       Wenn sie mitten in der Nacht den überwältigenden Drang verspürte, am Strand spazieren zu gehen, warum sollte sie es nicht tun?

       Eines Nachts im Alter von sechzehn Jahren, stieg sie eilig aus dem Bett und zog sich leise an. Auf Zehenspitzen schlich sie in das Zimmer ihres Bruders und legte ihm eine Hand auf den Mund bevor er aufwachte.

       Michele (das war sein Name) öffnete die Augen und sprang auf, ohne einen Laut von sich zu geben, da ihn die Hand seiner Schwester blockierte.

      „ Ich möchte am Strand spazieren gehen“, flüsterte sie ihm ruhig zu, als gäbe es des Nachts nichts Seltsames an diesem Wunsch.

      „ Bist du verrückt?“, antwortete Michele.

      „ Nur weil ich spazieren gehen will?“

      „ Aber es ist ein Uhr nachts!“, entgegnete er. Elena gab ihm einen Schlag auf den Arm, damit er leiser sprach.

      „ Willst du alle aufwecken, alter Esel?“

      „


Скачать книгу