Apostasie. Marie Albes

Apostasie - Marie Albes


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starken Glauben, dass du mit deinem neuen Leben glücklich wirst.‘

      Wahrscheinlich hätte er Chiara diese Worte mit auf den Weg geben sollen. Er wusste nicht warum, aber er zog es vor, zu schweigen, um sie nicht zu verärgern.

      

      

      Für viele Jahre wusste niemand, was Chiara dazu geführt hat, ihr Gelübde abzulegen, zumal ihr fröhlicher Gesichtsausdruck keinen Zweifel zuließ.

      Chiara verspürte eine echte Freude für den Weg, den sie entschieden hatte zu nehmen. Ihre Eltern lebten und ihr Bruder war nicht fern von ihr. Ihr neues Leben ermöglichte ihr, sich kulturell zu entwickeln und nahe der „ Person zu sein, die im Himmel lebt“ sowie anderen Menschen zu helfen.

      Nichts störte für mehrere Jahre ihr Lebensfrühjahr. Eine glücklichere Person gibt es nicht; ihr Blick war rein wie die Sonne. Allerding ist es an hellen Tagen, wenn ein stürmischer Wind aufsteigt, schwer zu wissen, ob Sonne bevorsteht oder ob Wolken das Wetter ändern.

      Für Chiara dauerte es zehn Jahre bis diese Wolke kam und leider kam sie.

      cinco

      Chiara hatte sich entschieden, eine Nonne zu werden. All diese Erinnerungen erschienen vor ihren Augen, während die anderen Ordensschwestern das Vaterunser ertönen ließen, wie sie es regelmäßig vor dem Mittag- und Abendessen taten.

      Obwohl Chiaras Lippen die Worte auswendig zitierten, die sie seit Anbeginn ihres Lebens kannte, fiel es ihrem Geist schwer, sich wie einst zu konzentrieren. Ihre Augen sollten während dem Gebet geschlossen sein, wanderten aber von der Linsensuppe in ihrem Teller zu den liturgischen Gemälden der kargen Wände, als versuchten sie zu entfliehen.

      Das Leben ist seltsam und schwer zu verstehen. Es lohnt sich, das Leben in all seinen Facetten auszuleben, obwohl der Mensch machtlos ist gegenüber den Entscheidungen Gottes.

      

      

       Werden alle menschlichen Entscheidungen vom himmlischen Veto bestimmt?

       Sie kannte die Antwort nicht.

      

      

      ZWEI JAHRE VORHER

      dreiundzwanzig Jahre nach Elena

      

      

      

      

      

      

      seis

      Es war ein warmer Mai-Nachmittag. Chiara wusste nicht, ob es Dienstag oder Mittwoch war. Sie hat sich einen langen Spaziergang am Nachmittag nach der Lektüre eines weiteren liturgischen Textes vorgenommen.

      Sie hatte in diesen zehn Jahren im Kloster viel gelesen. Chiara bekam nicht genug, um von den verschiedenen Facetten des Glaubens zu erfahren, die jeder Autor mit verschiedenen Worten und Gedanken beleuchtete. Gewiss las sie aus Neugier hin und wieder nicht-kirchliche Texte zu lesen, wenn sie keiner sah. In den Ordensinstituten durfte das Lesen nicht Quelle der Freude sein. Glücklicherweise unterrichtete sie in den ersten Klassen der katholischen Schule des Dorfes und konnte dadurch ihre Kultur durch Geschichte und Erdkunde variieren, ohne sich schuldig zu fühlen. Sicher hatte die Äbtissin ihr das Unterrichten der Kinder anvertraut, um ihre Leidenschaft für Texte aller Art zu unterstützen.

      Zurück zum Tag im Mai: Chiara war auf ihrem Rückweg zum Kloster und bewunderte beim Laufen die Umgebung. Die Wiesen blühten und die Bienen summten von einer Blume zur nächsten und transportierten Pollen. Die Idylle wurde begleitet vom Klang des Baches, der entlang der nicht-asphaltierten Straße verlief. Die Olivenbäume standen mit kleinen gelben und weißen Punkten in voller Blüte, als wären sie aus Schnee. Im November würden die Bauern die Oliven ernten, um sie in leckeres Öl zu verwandeln. Auch die leichten Zikaden fingen an, die Wärme zu spüren, und nutzten die Gelegenheit, zu singen.

      

      

      Alles war herrlich, idyllisch und voller Düfte, so dass die junge Nonne wahre Lebensfreude verspürte.

      In jenen Augenblicken fühlte sich Chiara näher an Gott denn je. Sie war sich sicher, dass all diese Herrlichkeit nicht aus einer stoischen Explosion namens Urknall entstanden sein kann.

      Sie hielt inne, um sich über einen Wildrosenstrauch zu beugen und den feinen, verführerischen Duft zu riechen, während ihr das schwarze Kopftuch nach unten glitt.

      In diesem Augenblick fühlte sie zum ersten Mal in ihrem Leben etwas, das alle normalen Mädchen Verlegenheit nannten.

      „¿ Son perfumadas?“, Chiara sprang bei diesen Worten auf, denn sie hatte nicht erwartet, dass jemand in der Nähe ist.

      Sie drehte sich ruckartig um. Ihre Pupillen waren geweitet. Als der vor ihr stehende junge Mann ihr ins Gesicht schaute, wich er einen Schritt zurück. Er war überrascht, dass eine monja (wie man sie in Spanisch nannte) so hübsch sein konnte.

      „ Perdoname“, entschuldigte er sich. „ No es fácil mich zu erinnern, que ich auf Italienisch sprechen muss und en Italien bin.“

      Chiara starrte ihn an, ohne ein Wort zu sagen.

      „ Como no es fácil acuerdarme que no es höflich, von hinten an eine Person heranzutreten. Disculpame si te erschreckt habe.“

      Chiara lächelte, denn sie war über den betont ausländischen Akzent belustigt, den sie noch nicht gehört hatte, da sie selten mit Ausländern zu tun hatte. Sie konnte ein paar Worte Spanisch, Französisch und Deutsch, da diese Kenntnisse für wohltätige Zwecke nützlich sein konnten. Bisher hatte sie aber nicht die Gelegenheit gehabt, ihre Fähigkeiten in die Praxis umzusetzen.

      „¿ No me comprendes? Oh, perdoname.“ Der junge Mann schüttelte seinen Kopf und berichtigte sich: „Verstehen Sie mich nicht?“

      „Ja, ja, ich verstehe ein bisschen Spanisch“, antwortete sie lächelnd. „Keine Ursache, es ist nicht Ihre Schuld. Ich war nur abgelenkt und habe mich deshalb erschrocken.“

      Dieses Mal war es der Fremde, der kein einziges Wort herausbrachte, so sehr war er versunken, die monja zu beobachten.

      ‚ Sie ist bildhübsch‘, dachte er sich, ‚ wie ist es möglich, dass ein so hermosa Mädchen Nonne geworden ist?‘‘

      Das weiße Stoffband, das ihr Gesicht unter dem Kopftuch umrahmte, brachte ihre strahlenden, verschiedenfarbigen, harmonisierenden Augen noch mehr zur Geltung. Die rosigen Lippen waren zu aufreizend, um zu einer Braut Gottes zu gehören.

      Ihre sanften Gesichtszüge unterschieden sich stark von denen der anderen Frauen, die er bisher gesehen hatte. Ganz zu schweigen die Nonnen, denen er bisher begegnet ist. Sie kamen ihm stets verbittert vor.

      Er nahm eine Haarsträhne wahr, die dem Kopftuch entwischen war. Vom Wind animiert tanzte die Strähne vor ihrem Gesicht hin und her, als wollte sie mitteilen, wie lebhaft und pfiffig Chiaras Seele war.

      Verlegen fragte Chiara sich, ob der Fremde ihr langes Schweigen wahrnimmt. Beide waren sie tief in ihren Gedanken versunken.

      Sie fühlte sich in Gegenwart von dem jungen, gebräunten Mann fremd und anders. Dieser starrte sie an, als hätte er nie zuvor eine Nonne gesehen. Sie fühlte, wie sich ihre Wangen bei seinem Blick erröteten. Den Augen des Fremden entging ihre Gefühlsregung nicht, wodurch sie noch graziöser wurde.

      „ Ahora tengo que ir, ich muss gehen, sorella“, verabschiedete er sich. Chiara lächelte amüsiert, als er das doppelte L wie ein „gl“ aussprach.


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