Die Herrscher und Gestalten des Mittelalters. Reinhard Pohanka

Die Herrscher und Gestalten des Mittelalters - Reinhard  Pohanka


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schildert er die Seuche und den Beschluss von sieben jungen Damen und drei Aristokraten, sich vor der Pest am Lande in Sicherheit zu bringen. Zwei Wochen lang erzählen sie sich jeden Tag zehn Geschichten, ernste, heitere, erbauliche und manchmal auch leicht anrüchige kleine Novellen. Boccaccio hat diese Geschichten nur zum Teil frei erfunden, er greift auch antike, orientalische und mittelalterliche Stoffe auf. Als das Decamerone 1353 erscheint, ist es sofort ein Erfolg, ein erster Druck erfolgte 1470 in Venedig.

      Das Decamerone machte Boccaccio berühmt und Italien auf ihn aufmerksam. Florenz betraute ihn mit diplomatischen Missionen, und er lernte

Francesco Petrarca kennen, der sein weiteres literarisches Wirken entscheidend beeinflussen sollte. Petrarca machte Boccaccio mit den klassischen Texten der Antike vertraut, gemeinsam schufen sie einen Zirkel von Intellektuellen, die sich der Erforschung der griechischen Literatur widmeten. Daneben entdeckte Boccaccio auch
Dante Alighieri für sich, dessen erste Biografie er 1353 verfasste und damit die Begeisterung für Dante in Italien auslöst.

      1360 begann Boccaccio mit dem Studium des Altgriechischen und übernahm einen Auftrag der Universität Florenz, die Ilias und die Odyssee des Homer ins Lateinische zu übersetzen.

      Nach einem 1361 gescheiterten Umsturzversuch in Florenz, bei dem viele Freunde und Bekannte Boccaccios ins Exil getrieben oder hingerichtet wurden, trat er in den Stand der niederen Geistlichkeit ein und wollte seine noch nicht publizierten Werke als zu profan verbrennen, was von Petrarca verhindert wurde.

      Giovanni Boccaccio erkrankte um 1374 schwer durch seine Fettleibigkeit an der Wassersucht. Er musste seine laufende Arbeit, die öffentliche Lesung von Dantes »Göttlicher Komödie« und deren Kommentar an der Universität Florenz, die dem verarmten Dichter einen Dante-Lehrstuhl eingerichtet hatte, abbrechen. Er zog sich nach Certaldo zurück und ist dort 1375 gestorben.

      Giovanni Boccaccio führte die Tradition der hochmittelalterlichen Geschichtenerzähler, die an die Adelshöfe abgewandert waren, weiter. Er wandelte dieses Bild und wurde im Decamerone zum urbanen Schriftsteller, der in Vulgare, der Sprache des Volkes, schreibt. Im Zusammenwirken mit Petrarca wurde er zu einem der ersten Humanisten Europas, er begeisterte sich für die antike Kunst und war einer der Vorreiter der Renaissance in Europa.

      GEOFFREY CHAUCER

      (1340/1345–1400)

      Er ist der Gigant der frühen englischen Literatur und Sprache und erneuerte sie nach einer langen Periode der französischen Dominanz. Seine »Canterbury Tales« sind ein frühes Beispiel einer Erzählform, die er aus Italien von

Boccaccio übernommen hat und können als Ständesatire seiner Zeit gewertet werden.

      Wie bei so vielen Angehörigen des mittelalterlichen Bürgertums ist auch bei Chaucer das Geburtsdatum nicht genau bekannt und dürfte zwischen 1340 und 1345 liegen. Sein Vater John war Weinhändler und Bürger von London, er war mit der Tochter des Schatzmeisters von London verheiratet und hatte gute Beziehungen zum englischen Hof. Chaucer bekam eine gute Erziehung und dürfte auch die Universität besucht haben. Erstmals hören wir von ihm 1357, als er im Haushaltsbuch der Lady Elizabeth du Burgh, der Frau des Prinzen Lionel, dritter Sohn von König Edward III., als Page erscheint. Er folgte seinem Herrn bis zum Frieden von Bretigny 1360 auf einen Kriegszug nach Frankreich, der die erste Phase des 100-jährigen Krieges einleitete, er wurde gefangen genommen und gegen 16 Pfund Lösegeld wieder ausgelöst. Als Lady Elizabeth starb, übersiedelte er als Page in Lionels Haushalt und erhielt ab 1367 eine Pension, die er sein Leben lang bezog.

      Vermutlich hat Chaucer vor 1374 geheiratet, mit seiner Frau Phillipa Roet scheint er aber nicht glücklich gewesen zu sein. Allerdings war ihre Schwester die Mätresse und spätere dritte Frau von Johann von Gent, was Chaucer zum Schwager des Sohnes des englischen Königs machte, der ab 1368 sein Gönner wurde.

      Als Kammerdiener oder Knappe lebte Chaucer im Haushalt von Johann von Gent und studierte nebenbei an der Londoner Rechtsschule. Seine Nähe zum Hof verhalf ihm zu diplomatischen Aufträgen in Frankreich, Flandern und Italien. 1368 traf er in Mailand bei der Hochzeit Lionels von Antwerpen, des Sohnes Edwards III., mit Violante, der Tochter Galeazzos II., Visconti von Padua, auch seine beiden literarischen Vorbilder

Petrarca und Jean Froissart. 1372 und 1373 war er in Genua und Florenz, lernte Italienisch und las die Werke von
Boccaccio und
Dante.

      1374 ernannte ihn Johann von Gent zum Zollinspektor für Wolle, Felle und Leder für England, und damit war er für einen Großteil des Einkommens des englischen Hofes verantwortlich. Weitere Aufenthalte in Frankreich und Mailand folgten 1377 und 1378. 1380 bekam er Schwierigkeiten mit der Justiz, weil er an einer Bäckerstochter »raptus« verübt hatte, ob damit eine Vergewaltigung oder eine Entführung gemeint ist, bleibt bis heute unklar.

      1385 zog Chaucer nach Kent und erwarb einen Sitz im Unterhaus der Grafschaft. Als 1386 Johann von Gent und Richard II. vom Parlament ihrer Autorität entkleidet wurden, verlor er seine finanzielle Unterstützung. 1387 starb seine Frau, und obwohl er 1390 zum königlichen Bauaufseher und später zum Forstaufseher über die königlichen Wälder ernannt wurde, häufte er Schulden an. Trotzdem entstand in dieser für ihn schwierigen Zeit sein Hauptwerk, die Canterbury Tales.

      1399 wandte sich das Blatt für Chaucer, als der Sohn seines verstorbenen Gönners Johann von Gent, Heinrich IV., den Thron bestieg. Chaucer ließ sich in London nieder, wo er am 25. Oktober 1400 starb. Er wurde in Westminster Abbey beigesetzt, sein Grab bildet das Zentrum des »Poets Corner«, in dem die berühmtesten englischen Dichter beigesetzt sind.

      Sein bekanntestes Werk sind die »Canterbury Tales«, die er nach 1388 schrieb. Zu schreiben begonnen hat Chaucer aber wesentlich früher. In seiner »französischen« Phase übersetzte er das berühmteste mittelalterliche Buch, den Rosenroman von

Jean de Meung und
Guillaume de Lorris, der sein späteres Werk deutlich beeinflussen sollte. Im »Buch der Herzogin«, seinem ersten eigenen Gedicht, lieferte er eine Lobrede auf Blanche, die 1368 verstorbenen erste Ehefrau des Johann von Gent. Nach dem Vorbild des Rosenromans ist es ein Traumgedicht, ebenso wie das der »italienischen« Phase zugerechnete, um 1380 entstandene »Haus der Fama«, ein Kompendium zahlreicher Themen von Kunst, Wahrheit und Lüge, das von
Dantes »Göttlicher Komödie« beeinflusst wurde. Chaucer übersetzte Boethius, schrieb eine unglückliche Liebesgeschichte über Anelida und Arcyte und das Traumgedicht »Das Parlament der Vögel«, eine Allegorie auf Ehe, Treue und Untreue, die vermutlich anlässlich der Vermählung von Richard II. mit Anne von Böhmen entstanden ist. Das Thema der Liebe behandelte er in »Troilus und Cressida« und in »The Legend of Good Women«, in denen er all der verlassenen Ehefrauen der Antike gedachte.

      Die ab 1388 entstandenen »Canterbury Tales« sind an Boccaccios »Decamerone« orientiert. Auch hier gibt es eine Rahmenhandlung mit einer Pilgerfahrt zum Grabe von

Thomas Becket. Der Dichter trifft dabei in einer Taverne 29 andere Personen, und der Wirt schlägt vor, dass jeder auf dem Hin- und Rückweg zwei Geschichten erzählen muss. Es waren also 120 Geschichten geplant, vollendet wurden nur 22 davon. Chaucer hat jedem der Pilger eine eigene Persönlichkeit, Gestalt und ein literarisches Profil gegeben, damit ist es ihm möglich, von der Rittererzählung über die Heiligenvita bis zur höfischen Dichtung und zum Bauernschwank alle literarischen Genres zu bedienen. Die »Canterbury Tales« sind als Hauptwerk der »englischen« Phase in Chaucers Schaffen zu sehen, und er hat
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