LICHT UND SCHATTEN (Black Stiletto 2). Raymond Benson

LICHT UND SCHATTEN (Black Stiletto 2) - Raymond Benson


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eigene Faust. Den Gesetzeshütern gefiel das ganz und gar nicht. Es dauerte nicht lange, bis sie von der Polizei und dem FBI gesucht wurde. Davon unbeeindruckt bekämpfte sie jedoch während des Jahres 1958 gewöhnliche Ganoven, die Mafia und kommunistische Spione. Gegen Ende jenes Jahres unternahm sie eine Reise zurück nach Odessa, fand dort ihren Stiefvater, der sie vergewaltigt hatte – ein Mann mit dem Namen Douglas Bates – und übte ihre Rache.

      Die Aktivitäten meiner Mutter sollten sogar noch Jahrzehnte später ihre Auswirkungen haben. Roberto Ranelli, ein Auftragsmörder der Mafia, wurde aus dem Gefängnis entlassen. Irgendwoher wusste er, dass meine Mutter die Black Stiletto war, und verfolgte sie bis in die Vorstädte Chicagos. Zum Glück war er bereits alt und nicht mehr bei bester Gesundheit. Obwohl er eine Immobilienmaklerin umbrachte, und versuchte, meine Mutter zu töten, schaltete sich eine verborgene Erinnerung meiner vom Alzheimer gezeichneten Mutter ein und wie auf wundersame Weise setzte sie den Killer in jenem Pflegeheim außer Gefecht. Aber es war sein schwaches Herz, das ihn umbrachte.

      Ich bin noch immer dabei, die Geschichte meiner Mutter zu erforschen, aber ich hatte viel zu tun. Zur Zeit bin ich arbeitslos und musste den Sommer damit verbringen, mir eine neue Arbeit zu suchen. Außerdem musste ich mich um den Umzug meiner Tochter Gina nach New York kümmern, wo sie die Juilliard besuchen wird. Ich bin geschiedener Vater. Ginas Mutter, Carol, lebt noch hier in der Gegend, und ich denke, man kann sagen, dass wir gut miteinander auskommen. Ich war nicht allzu glücklich darüber, dass Gina nach New York gehen wird, um Schauspielerei und Tanz zu studieren, aber sie konnte mich schließlich davon überzeugen, dass sie ihrem eigenen Herzen folgen musste, und nicht meinem.

      Jedenfalls hatte ich keinen freien Moment, um in die verbliebenen Tagebücher meiner Mutter einzutauchen. Gerade erst habe ich den 8mm-Projektor besorgt, um mir den mysteriösen Film anzusehen.

      Zurück zu den flimmernden Bildern an meiner Wand. Die Black Stiletto »kämpfte« gegen die Schaufensterpuppe und stellte ihre Kampfkünste unter Beweis. Die arme Puppe musste einiges einstecken. An einer Stelle hieb sie dem Kerl mit einem Handkantenschlag im Karate-Stil gegen die Schulter, worauf hin sein Arm abfiel. Sie nahm ihre Hand vor den Mund, kicherte, drehte sich zur Kamera und formte die Worte: Tut mir leid. Es gab einen Zwischenschnitt, dann befand sich der Arm wieder an Ort und Stelle. Meine Mutter lachte noch immer. Sie hatte sichtlich ihren Spaß, aber man konnte trotzdem sehen, dass sie die Sache auch ein wenig lächerlich fand. Wann immer der Kameramann ihr Anweisungen gab, rollte sie mit den Augen. Ich schätze, die beiden waren allein in dem Studio.

      Nach ein paar weiteren Einstellungen, in denen die Stiletto die Puppe mit Schlägen oder Tritten malträtierte oder auf sie einstach, gab es einen Schnitt, und plötzlich befanden wir uns außerhalb, an einer Straßenecke in Manhattan. Es war Nacht, und die einzige Beleuchtung kam von einer Straßenlaterne und einer Art Strahler, den der Filmemacher auf die Seite eines Gebäudes und die dort befindliche Feuertreppe gerichtet hatte. Aufgrund der schwachen Lichtverhältnisse war das Bild jetzt körniger als zuvor. Die Black Stiletto trat auf und warf ein Seil mit einer Art Enterhaken nach dem unteren Ende der Feuerleiter. Der Haken traf sein Ziel und sie zog die Leiter zur Straße hinunter. Dann wickelte sie das Seil schnell wieder auf, befestigte es an ihrem Gürtel und kletterte die Leiter zu der Plattform im zweiten Stockwerk hinauf. Der Filmer blieb am Boden und hob die Kamera, um ihr zu folgen. Sie glitt die Stufen zum dritten und dann zum vierten Stockwerk hinauf. Ihr Tempo war verblüffend. Sie bewegte sich wie eine Katze, grazil und geschmeidig. Als sie das fünfte Stockwerk erreicht hatte, kletterte sie die wenigen verbliebenen Zentimeter zum Dach hinauf, schwang ihr Bein darüber und sprang hinauf. Jetzt war sie ein kleiner schwarzer Umriss vor einem noch schwärzeren Himmel. Sie war kaum zu erkennen, aber man konnte sehen, dass sie der Kamera zuwinkte, bevor sie verschwand.

      Der Film endete. Der Rest der Filmrolle entpuppte sich als leer. Ich war baff. Ich saß auf einer Goldmine, denn wer würde für ein solches Filmmaterial nicht das ganz große Geld locker machen? Aber andererseits würde ich dann offenbaren müssen, wo ich diesen Film herhatte. Ich bin nicht sicher, ob ich das tun kann, solange Mutter noch am Leben ist.

      Ich wollte gerade aufstehen, um den Projektor anzuhalten, den Film zurückzuspulen und ihn mir noch einmal anzusehen – als plötzlich am Ende der Rolle noch eine weitere Szene begann. Dieses Mal saß die Stiletto in einem kleinen Zimmer vor einem Spiegel, umrahmt von hellen Glühbirnen. Vor ihr standen eine Reihe von Schminkutensilien. Eine Garderobe. Sie starrte in den Spiegel, legte noch etwas mehr Lippenstift auf und rückte ihre Maske zurecht. Anders als in den vorangegangenen Szenen schien sie die Kamera nicht zu bemerken, ignorierte sie völlig. Es schien, als würde sie nicht merken, dass sie in dieser Szene gefilmt wurde. Sie beugte sich nach vorn, weil sie mit etwas unzufrieden schien, und dann zog sie ihre Maske herunter. Judy Cooper gab sich dem Spiegel zu erkennen.

      Meine Mutter. Einundzwanzig Jahre alt. Mein Gott, sie war wunderschön. Ihre langen schwarzen Haare, die sie unter der Maske zusammengewickelt hatte, fielen auf ihre Schultern. Sie trug etwas Mascara auf ihre Wimpern auf, begutachtete ihr Werk, und legte dann mit der einen Hand ihre Haare nach oben, während sie mit der anderen die Maske über ihren Kopf zog. Nachdem sie ihr Haar säuberlich unter der Maske versteckt hatte, richtete die Stiletto ihre Maske ordentlich auf ihrem Gesicht aus und stand auf.

      Schnitt.

      Der Film war nun wirklich zu Ende und rollte flatternd aus dem Projektor.

      Das war ein erstaunliches geschichtliches Artefakt. Die Black Stiletto in Aktion, ganz aus der Nähe und höchstpersönlich. Das war aufregend und verstörend zugleich. Ich war begeistert, eine authentische Aufnahme der Frau zu besitzen. Was mir aber Sorgen bereitete, war jene letzte Szene. Man hatte sie ohne Maske erwischt, ihr Gesicht offenbart. Sie muss von dem Film gewusst haben, schließlich hatte sie die Filmrolle unter Verschluss, aber ich bin mir sicher, dass sie in diesem Moment in der Garderobe nicht bemerkt hatte, dass der Kerl sie filmte.

      Ich fädelte den Film erneut ein und sah mir alles noch einmal an, versuchte Hinweise zu finden, wo man die Szenen gefilmt hatte oder wer der Kameramann gewesen sein mochte. Es gab keine Möglichkeit, das Gebäude zu identifizieren, außer dass es ein typisches fünfstöckiges New Yorker Stadthaus war, wie man es an jeder Ecke finden konnte. Die Straßenschilder waren nicht mehr im Bild, also konnte es überall in Manhattan sein.

      Als der Film ein zweites Mal durchgelaufen war, stellten sich mir noch mehr Fragen. Bedeutete das, dass es noch mehr Menschen gab, die die wahre Identität der Black Stiletto kannten? Wer war der Kameramann? Warum hatte man diesen Film gedreht? Es musste einen Grund dafür geben.

      Offensichtlich musste ich das zweite Tagebuch lesen – das aus dem Jahre 1959 – um diesen herauszufinden.

      2| Judys Tagebuch 1959

       Januar 1959

      Liebes Tagebuch, ich bin noch immer ein wenig aufgewühlt wegen dem, was letzte Nacht geschehen ist. Die Black Stiletto hatte ihren ersten Auftritt in diesem Jahr, und einen ereignisreichen dazu. Ich habe kein Auge zu bekommen, als ich wieder zurück in meinem Zimmer war.

      Aber bevor ich versuche, meine Gedanken diesbezüglich zu sammeln, werde ich dich erst einmal auf den neuesten Stand bringen.

      Nach der großen alljährlichen Neujahrsfeier ließ ich es für ein paar Tage ruhig angehen; ich arbeitete nur im Gym und versuchte mich ansonsten von Ärger fernzuhalten, haha. In der Welt passieren gerade eine Menge Dinge. Alaska wurde in dieser Woche ein neuer Bundesstaat, also schätze ich, dass sie eine neue amerikanische Nationalflagge mit einem weiteren Stern dazu machen müssen. Außerdem hat Fidel Castro in Kuba die Kontrolle übernommen. Ich wusste, dass das passieren würde, und ich habe es dir ja gesagt, liebes Tagebuch. Ich hatte gehofft, dass meine Arbeit im letzten Jahr, als ich den kubanischen Spion entlarvte, etwas Gutes bewirken würde, aber das hat es wohl nicht. In den Zeitungen wird viel darüber spekuliert, welcher Seite Castro sich verpflichtet fühlen wird – Amerika oder Russland. Da er ein Sozialist ist, wird er sich wohl den Kommunisten anschließen. Das macht vielen Menschen Angst, zumal Kuba so nah ist.

      Wie auch immer, jedenfalls fiel mir dann gestern die Decke auf den Kopf und ich entschied, auszugehen. Vielleicht lag es daran, dass ich


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