Unheilige Narren. Ulrich Holbein

Unheilige Narren - Ulrich Holbein


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Aussätzigenglocke bzw. Juden- und Christensterne. Al-Hakim erließ ein Prozessionsverbot in Jerusalem am Palmsonntag, verbot, Ostern und Pfingsten zu feiern, beschlagnahmte Kirchengüter, ließ den christlichen Chef der fatimidischen Finanzverwaltung köpfen und Kirchen in Kairo und Damaskus zerstören. Vorwand: Den pyrotechnischen Trick, mit dem das Heilige Feuer entzündet wurde, deklarierte er als Schwindel und Gotteslästerung. Er ließ alle Bordelle schließen und jede Musik verbieten. Der oströmische Kaiser Justinian verbot 529 n.Chr. Philosophie und Würfelspiel; Hakim verbrannte Lauten und Schachbretter, konfiszierte private Waffen und hätte Photoapparate eingezogen, wenns schon welche gegeben hätte. Auf Bagatellverstöße stand Prügelstrafe. Stufenweise fand Verschärfung statt – vorauseilend parallel zu Judengesetzen ab 1933: Erst durften Frauen nur schmucklos, dann gar nicht mehr raus, erst nur bekleidet baden, dann überhaupt nicht mehr. Sogar die Lautstärke weiblicher Trauerklagen an frischen Gräbern erfuhr gesetzliche Drosselung; später durften nur noch Männer auf den Friedhof, die dann ebenfalls Ausgeh- und Rumstehverbot erteilt bekamen. Erst wurden nur Gerstenbier, Wein, Hirsebier, 5000 Honigfässer in den Nil gekippt, dann gar Honig und Rosinen rationiert, dann verboten, auf daß keiner Honigbier brauen könne. Al-Hakim trimmte eine ganze Gesellschaft per Paragraph zum Zwangsasketen. Er hielt alle auf Trab durch ständig wechselnde Verbotszurücknahmen, vorübergehende Lockerungen und neue Verschärfung. In diesem Exzentriker schienen mehrere Seelen zu leben. Gerüchte schliefen ein und lebten auf, der Kalif sei wahnsinnig geworden. Plötzlich wurden sogar Lustwandeln, Ausflüge, Senfkohl, Picknick in der Wüste und Sonnenbaden mit Sonnensegel am Nilufer verboten. Einzig das Verbot des Nationalgerichts Fischsalat – fadenscheinige Begründung, das sei die Leibspeise verpönter Kalifen der Vergangenheit gewesen – ließ sich nicht durchdrücken; gleichwie es im Dritten Reich nicht gelang, allen feuchtfröhlichen Tanzmusik- und Schlagerfans Richard Wagners Nibelungen aufzudrücken. Lärmempfindlicher als Wallenstein, erließ al-Hakim, genau wie tausend Jahre später Napoleon 1798 und dann Saddam Hussein in Bagdad, erst ein Bell-, dann ein Hundeverbot in Kairo. Mißtrauischer als Saddam Hussein, Stalin, Iwan der Schreckliche und Stauferkönig Friedrich II., grausamer als Richard III., befehligte al-Hakim eine berüchtigte schwarze Elite-Einheit, afrikanische Söldner und Killer.

      Trotz des arabischen Sprichworts „Wenn dir einer erzählt, er hätte einen Berg versetzt, so glaube es getrost, aber wenn dir einer sagt, er habe seinen Charakter geändert, so glaube es nicht“ präsentierte al-Hakim 27-jährig plötzlich eine unverhoffte, wenig zu ihm passende Charakteränderung. Von heut auf morgen zeigte er keine Grausamkeit mehr. Demütig niedergeschlagenen Auges schaffte er den Trommelwirbel, der seine Auftritte anzukündigen pflegte, ersatzlos ab, ebenso auch die obligaten Unterwerfungsformeln, Ehrentitel und Fußküsse seines Gefolges. Statt prunkvoll und insignienbehängt hoch zu Roß, ritt er nur noch als Büßergestalt auf einem Esel, in schwarzem härenen Derwischgewand, mit schulterlangem Haar. Plötzlich tauchte er ohne Leibwache auf Märkten auf. Das gebeutelte, kaum aufatmende, musiklose Volk blieb skeptisch, unsicher, gespalten. Hatte der Werwolf Kreide gefressen wie später Gaddafi und ließ sich à la Saddam Hussein scheinheilig auf dem Gebetsteppich filmen, oder war er in den Sog stilechter Katharsis geraten und wirklich erleuchtet worden? Entweder erlebte al-Hakim, sobald er sich neuerdings auf den Hügel Mokattam zurückzog, unweit von Kairo, alldort göttliche Zustände, ohne Hofstaat, nächtelang, ganz allein – denn sadistische und mystische Gaben müssen einander nicht ausschließen –, oder er drehte dort Auszeit-Däumchen, und alles war nur ein Werbetrick, um Legenden auszulösen, er spreche dort mit Allah, und Allah mit ihm, er sei also ein neuer Prophet. Welch seltsame Mose-Variante! Bevor er von seinem persönlichen, nicht äußerst gipfelragenden Sinai zurückkam, hatte er, statt neue Gesetzestafeln mitzubringen, auf eigene Hand sämtliche Strafgesetze hausgemacht erlassen und verschärft, während er sie jetzt eher wieder lockerte, das Alkoholverbot sogar zeitweise aufhob, nämlich als ihm sein Leibarzt Wein gegen seine labile Gesundheit und chronische Schlaflosigkeit verschrieb. Al-Hakim verkündete ganz im Sinne arabischer Gelehrtenkultur: „Alles ist bei mir verzeichnet“, so als sei er einer jener seltenen Auserwählten, die in Dr. Rudolf Steiners allumfassende Akasha-Chronik Einblick hätten.

      Endlich, am 30. 5. 1017, bei Sonnenuntergang, rief Kalif al-Hakim bi Amrillah den Beginn der neuen Epoche aus, das wahre Zeitalter Allahs. Keiner müsse mehr Angst haben, versprach er großmütig, schraubte plötzlich auch die Demut zurück und erschien, hochgeschaukelt von hocheloquenten Propagandisten, als auf Erden wandelnder Allah. Ins frisch entstandene Drusentum sickerten Inkarnationslehren ein. Flächendeckend weiterlaufende Missionierung hatte ab sofort moderat zu verlaufen. Der mittelalterlich rigorose Machttypus al-Hakim führte sogar relative Glaubensfreiheit ein, schier modern-demokratischfreiheitlich anmutend, was nicht jedem Musulman behagte. Nur vermischte sich das humane, ja moderne Prinzip Freiwilligkeit paradox mit bürokratisch gestarteten Fragebogen- und Bescheinigungsaktionen. Ein hier nicht mitgewachsener, wie gehabt sehr herkömmlich funktionierender türkischer Missionar, Nashtakin al-Darazi, Stifter der Drusen, der die Unterschriften neuer Schäfchen weiterhin mit der Knute eintrieb, nämlich mit al-Hakims alten Methoden, veranlaßte den geläuterten Kalifen, nochmals cholerisch aufzuschäumen, wie vormals täglich, und das kaum erprobte Zeitalter leuchtendster Wahrheit kurz auszusetzen, bis der erfolgreiche, strenge, unbeliebte Glaubensbekenntnis-Werber hingerichtet war und aufs neue die neue herrliche Zeit ausgerufen werden konnte – die kaum lange vorhielt. Denn alsbald fielen al-Hakims Truppen aus unerfindlichem Grund, wohl nur wegen einer Anti-al-Hakim-Flugblattaktion, über die kulturgesättigte Altstadt Fostat her, plünderten, brandschatzten – eine sinnlos amplifizierte Kollektivstrafe, schier Kristallnacht, frei nach dem Legenden-Herodes, alle erreichbaren Nachbarn auszurotten, in der Hoffnung, daß der anonyme Übeltäter mit dabei sein könnte. Alle Einwohner mußten nackt aus den Häusern treten, wurden entweder vergewaltigt oder kastriert. Al-Hakim erschlug, weil sein Eunuchensklave Ali ihn anflehte, die Greuel zu beenden, den Jammerlappen sofort – obwohl er eigentlich kein Blut sehen konnte, wie Heinrich Himmler. Sowohl im Volk wie in der Armee kippte die Stimmung zuungunsten al-Hakims immer deutlicher. In 25 Jahren verschliß er vierzehn Wesire, von denen nur zwei eines natürlichen Todes starben. Man wagte nicht anzudeuten, daß man sich den wahren neuen Äon von der Zeit nach ihm versprach. Seine Untaten erinnerten fatal an die Schleifung, Kastration, Abschlachtung und öffentliche Aushängung des afghanischen Politikers Mohammed Nadschibullah 1996. Zu al-Hakim hätte die Antwort gepaßt, die Hadschdschadsch, der tyrannische Statthalter des Irak, um 710 n.Chr. gab, als man an dessen Gewalttaten litt: „Seht, was ihr für schlechte Menschen seid, daß Allah einen Mann wie mich auf euch losgelassen hat.“

      Ein Jahr später kehrte er von einem einsamen nächtlichen Ausritt auf seinem Esel, namens „Mond“, auf den Hügel Mokattam nicht zurück. Sein nicht ganz spurloses Verschwinden löste Gerüchte aus. Zwar fand man den verletzten „Mond“ sowie blutige Kleidung auf, doch gefälschte Indizien gehörten seit der alttestamentarischen Josefs-Geschichte zum Usus. Vier, fünf Theorieversionen kamen sich in der Regenbogenpresse des 11. Jh. in die Quere: Allah habe – laut drusischer Deutung – seinen Knecht wie vormals Henoch in den Himmel gehoben – ein so seltener Vorgang, daß Vorsokratiker Empedokles, ohne Hoffnung auf tatsächliche Himmelfahrt, diese wenigstens vortäuschen wollte. Die zweite, pragmatische Erklärung für al-Hakims mysteriöses Verschwinden: Sitt al-Mulk, Al-Hakims ältere Schwester, habe aus Todesangst vor ihrem unberechenbaren Bruder einige Beduinenscheichs zum Mordanschlag überreden können, um dann selber als Schattenkalifin zu herrschen. Eine weitere Version: Er sei zurückgekehrt und sofort als betrügerischer Doppelgänger entlarvt und hingerichtet worden.

      Al-Hakims Tod brachte dem ägyptischen Volk keine Erleichterung. Al-Hakims Sohn Ali, so grausam wie sein Vater, ließ nun umgekehrt alle verfolgen, die sein Vater geschont hatte, und schonte die bis dahin Verfolgten, nach dem altbekannten Entnazifizierungs-Schema und dem ganzen bürokratischen Drumherum aus Verpflichtungsscheinen, Ahnenpässen, Beglaubigungen, Stasi-Akten. Christen, Sunniten und Bagdader Hofhistoriographen schilderten al-Hakim als ungläubiges, nämlich Mars und Saturn anbetendes Monstrum, das sich mit überlangen Fingernägeln sieben Jahre lang nicht wusch, und als eigenhändigen Knabenschlächter: Bei einer Metzgereibesichtigung mit Gefolge erschlug er, hieß es nachträglich, eigenhändig einen seiner Diener, nur um die Beilschärfe zu testen. Spätere Tendenz-Legenden behaupteten sogar, al-Hakim hätte Schuhmachern verboten, Frauenschuhe herzustellen, und unliebsame Konkubinen im Nil versenkt. Die Drusen aber ließen


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