Mischpoke!. Marcia Zuckermann

Mischpoke! - Marcia Zuckermann


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ihr mit seinen schwarz-weißen Zähnen breit entgegen. Beherzt ergriff Fränze nun den Nussknacker aus der böhmischen Kristallschale auf dem Piano, legte den Schlüsselkopf in den Nussknacker wie in eine Zange und drehte ihn mit einem kräftigen Ruck herum. »Knack!« Der Bart war abgebrochen. Fortan hatten sie freie Bahn. Die Anschaffung des Pianofortes fiel zwar in Samuel Kohanims Zuständigkeit, der begehrte Klavierunterricht für die Mädchen war nach den ungeschriebenen Gesetzen der Kohanim’schen Gewaltenteilung jedoch Mindels Angelegenheit.

      Geld für einen Klavierlehrer fand Mindel pure Verschwendung. Fränze und Jenny wollten sich auf diese Art und Weise nur vor der Hausarbeit drücken. Damit hatte sie natürlich recht. Wenn es aber nun schon der Wunsch ihres Mannes war, dann sollte Maxim Gulkowitsch für seinen Wohltäter arbeiten, indem er Fränze und Jenny umsonst Stunden gäbe. Und weil sie im Haus das Sagen hatte, wurde es so gemacht. Jenny war darüber todunglücklich. Im Gegensatz zu ihrer Schwester Fränze war es ihr ernst mit der Musik. Fränze fand Klavierspielen einen lustigeren Zeitvertreib, als Hohlsäume zu häkeln, und einen fast gleichaltrigen Jungen als Lehrer entschieden amüsanter als einen grauen Mann, der nach Alter, schmutzigen Anzügen und billigen Zigarrenstumpen roch. Diesen Max Gulkowitsch würde sie erst mal gründlich Maß nehmen, beschloss Franziska.

      Auf die Stunden für Jenny freute sich Max inzwischen. Jenny, die sich plötzlich als Musikenthusiastin erwies, mache »für ein Mädchen« gute Fortschritte, berichtete Max dem Kohanim etwas hochtrabend. Doch die Stunden für Fränze fürchtete er, zum einen, weil sie jedes Mal eine neue Bosheit ausheckte, zum anderen, weil er sich immer so beklommen und machtlos in ihrer Gegenwart fühlte. Fränze, fand Max, hatte die Augen eines teuren Pferdes. Wenn sie ihn direkt ansah, war er wie gelähmt. Ihren Samtblick senkte Fränze allerdings umso lieber in seine Augen, sobald sie seine Schwäche witterte. Für Schwäche, Angst und Unsicherheit hatte Franziska schon damals einen fast animalischen Instinkt und fand an der Nutzbarkeit dieser Gabe rasch ein perverses Vergnügen.

      »In Fränze steckt ein Dibbuk!«, behauptete Max deshalb und wurde dabei so rot, dass seine Ohren wie zwei Hufeisen unter dem Schmiedehammer glühten. Für Samuel Kohanim war das ein willkommener Anlass, das Gespräch bei Tisch auf die Zukunft der Mädchen zu lenken, insbesondere auf die Frage, welche Heiratskandidaten überhaupt in Betracht kämen und mit welchen würdigen Eltern man vielleicht in nicht allzu ferner Zeit Gespräche führen sollte.

      »Ich will aber nur einen Mann, den ich liebe«, rief Martha kategorisch. Mindel und Samuel wechselten besorgte Blicke. Offenbar trat ein, was man seit langem befürchtet hatte.

      »Was sollen denn diese gojischen Moden?«, fuhr Mindel auf. Romantische Liebe war für Mindel gleichbedeutend mit Unzucht und allgemeinem Sittenverfall. »So was endet nur in der Gosse oder im Leichenschauhaus.«

      Dafür hatte sie unzählige schreckliche Beispiele parat, von der Hanni, die ins Wasser gegangen war, und »Denkt an Bertha!«, bis zu einer »Person« um sieben Ecken, die ihrem Herzen folgend in einem schlimmen Haus endete und so weiter und so fort. Wenn das alles nicht half, kam das abschreckende Beispiel von Romeo und Julia, oder nur ein Wort: »Berlin!«

      Angesichts der Front von sieben schmollenden Töchtern wollte Samuel Kohanim beschwichtigen. Vage ahnte er, dass er dabei genau auf demselben verlorenen Posten stand wie all die anderen jüdischen Eltern seiner Generation: gegen den Zug der Zeit.

      Der Assimilation könnte man zwar noch etwas trotzen, so zwei bis drei Generationen, spekulierte er, aber gegen das süße Gift der Romantik, dem inzwischen ausnahmslos alle jungen Mädchen, egal ob Deutsche, Polin, Russin oder Jüdin, zum Opfer fielen, sei kein Kraut gewachsen. Da gab es nur Rückzugsgefechte! Trotzdem schien es Samuel Kohanim ratsam, an die Vernunft seiner Töchter zu appellieren: »Ihr haltet eure Eltern doch nicht für Scheusale, die euch Böses wollen, oder?« Seine Frage prallte auf Flunsche, »Schippen«, Schmollmünder, vorwurfsvolle Blicke und trotzige Stirnen. Kleinlaut schüttelten alle sieben den Kopf. Jenny, die noch nicht ganz verstand, worum die Aufregung ging, malte angestrengt mit den Zinken der Gabel tiefe Streifenmuster auf das weiße Tischtuch.

       »Liebe!«

      Große Pause.

      »Überlegt doch mal selbst. Der junge, unerfahrene Mensch denkt, das sei für immer. In Wahrheit ist die Liebe ein äußerst flüchtiges Gefühl. Das Herz des Menschen ist wankelmütig. Heute so und morgen so, übermorgen schon wieder anders, und dann vergessen! Darauf kann man doch nicht sein Leben gründen. Das wäre doch wirklich töricht, nicht wahr?«

      Die Mädchen zeigten sich nicht überzeugt. Aus unerfindlichen Gründen, oder weil es die Evolution so wollte, glaubten sie wie alle jungen Mädchen felsenfest an die große Liebe aus den Romanen, wo Liebe bis in den Tod noch das mindeste war. Wegen der rhetorischen Übermacht des Vaters und in der Überzeugung, dass sich Gefühle dem Verstand nicht erschließen und Eltern davon ohnehin keine Ahnung haben, fielen ihnen jedoch keine passenden Gegenargumente ein.

      So schwiegen sie trotzig, während ihre Gesichter sagten »Wir glauben euch kein Wort!«

      »Ich möchte aber überhaupt nicht heiraten. Ich will studieren«, meldete sich Selma zu Wort.

      »Aber du bist doch ein Mädchen!« Samuel Kohanim lächelte sie nachsichtig an.

      »Ja, wieso soll ein Mädchen nicht studieren? In der Zeitung habe ich gelesen, dass inzwischen auch Mädchen studieren, selbst an der Universität! Bin ich etwa dümmer als ein Junge?«

      Mindel sah Selma entgeistert an und begann, nervös an ihrem Spitzenkragen herumzunesteln.

      »Aber das ist es doch gerade!«, versetzte Samuel gutmütig und erklärte lachend: »Nur die Jungen müssen alles, was sie zum Leben brauchen, lernen. Die Mädchen wissen bereits alles. Seht euch eure Mutter an!«

      Sie blickten zu ihrer Mutter und waren sich einig, dass sie sich ein solches Leben auf keinen Fall wünschten, auch wenn sie sonst noch nicht wussten, was sie wollten.

      Wahrheit und Glaubwürdigkeit

      In der Kanzlei von Frau Rechtsanwältin Seraphina Kühnel ist es ruhig geworden. Um halb acht haben sich die Anwaltsgehilfin und die Sekretärin in den Feierabend verabschiedet. Das ist auch der ideale Zeitpunkt, mich unbemerkt aus der Klinik fortzuschleichen.

      »Ein entspanntes Mandantengespräch kann ich mir nur ohne Handy im Kühlschrank und nicht auf dem Klo bei laufenden Wasserhähnen vorstellen«, habe ich Frau Kühnel ausrichten lassen und um einen Termin in den sicheren Räumen ihrer Kanzlei gebeten. Jetzt, nach Feierabend der Kanzleigehilfinnen, laufen alle Telefonanrufe der Kanzlei auf der Mailbox auf. Nur die Notfälle erreichen das rote Handy meiner Strafverteidigerin. Es liegt auf ihrem englischen Schreibtisch, der vom milden Licht einer antiken grünen Kanzleilampe beschienen wird. Neben dem Telefon liegt meine Akte. Frau Kühnel ist heute ganz in Siegerlaune. Überraschend hat sie einen spektakulären Fall gewonnen. Morgen wird alles darüber in den Nachrichten und in den Zeitungen erscheinen. Ein riesiges, sündhaft teures Blumengesteck mit Dankeskarten und eine Holzkiste mit Heidsieck-Champagner künden vom tiefen Dank eines solventen Mandanten. Ansonsten herrscht im Büro der aufdringlich englische Stil vor, der offenbar Geldmenschen und Ganoven gleichermaßen beeindruckt. Auf den Schränken reihen sich Golftrophäen und Pokale, die daran erinnern sollen, dass Seraphina Kühnel auch auf diesem Gebiet brilliert.

      Meine Verteidigerin blättert hastig in meiner Akte. Sie erklärt mir, dass sie mich für die Befragung durch die Polizei und die Staatsanwaltschaft vor Gericht fit machen will. Zudem war es ihr gelungen, alle Ersuchen zu meiner Einvernahme wegen Nichtvernehmungsfähigkeit abzuschmettern. Ich will so etwas wie »Danke« murmeln, aber sie wischt das mit einer Handbewegung weg. Dass sie gut ist, weiß sie ohnehin. Dann legt sie die Akte mit einer fast liebevollen Streichelbewegung zur Seite. Sie sammelt sich. Zur besseren Konzentration faltet sie die Hände auf dem Schreibtisch und blickt mich so forschend an wie ein Arzt eine Patientin. »Gab es einen konkreten Anlass für Sie, nach Istanbul zu reisen?«

      Verlegen begutachte ich den Zustand meiner Fingernägel. »Es war eine rein touristische Reise. Sehenswürdigkeiten, Einkaufen und so …«, labere ich


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