Mischpoke!. Marcia Zuckermann

Mischpoke! - Marcia Zuckermann


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forderte vom »Sogenannten« einen grotesk hohen Preis für seine Schnapsbrennerei, den der geadelte Deutschrusse zur Überraschung aller, ohne mit der Wimper zu zucken, zahlte. Drei Wochen später kaufte der Schnapsbaron zu ähnlich wahnwitzigen Konditionen die gräfliche Zuckerraffinerie sowie das kleine Landanwesen der Solkowskys bei Laskowitz dazu.

      Keine zwei Kilometer vom Vorwerk Sauermühle der Kohanim zog »der Sogenannte« mit seiner Familie ein. So wurden die Kohanim und die von Steinfelds Nachbarn, die sich höflich ignorierten und einander in der Öffentlichkeit nur mit den Augen grüßten, wenn es unerlässlich war.

      Nach dieser Transaktion konnten die polnischen Grafen die Kugeln in den Kasinos wieder eine Weile flott rollen lassen und ihre falschen französischen Mätressen mit echten Juwelen behängen.

      Seitdem arbeiteten die Leute im Kreis entweder für den »deutschen Zuckerzaren« oder für den »Holzjuden« im Sägewerk und in der angeschlossenen Möbelfabrik, die Samuel Kohanim mit seinem Cousin Zacharias Segall seit der Geburt des Kronprinzen betrieb.

      Samuel hatte damals den Plan, seinem Sohn ein Königreich aus Brettern, Tischen, Stühlen und massiven Eichenschränken zu errichten. Er hatte sogar daran gedacht, sich an der modernen Papiermühle seines erfolgreichen Schwippschwagers Artur Bukofzker in Schwetz zu beteiligen und damit an der Herstellung von Zeitungspapier für das nahe Danzig, Bromberg, Breslau, Berlin … zumal man direkt an der Weichsel und an der Bahnlinie Berlin–Königsberg lag. Welche Möglichkeiten!

      Nun waren ihm jedoch alle Projekte gleichgültig geworden. »Alles Streben und Trachten ist eitel!« Stöhnend streifte er den Gebetsumhang und Gebetsriemen ab, zerriss sich zum Zeichen der Trauer das Hemd und ging schweren Schritts im Zimmer auf und ab, bis er vor der Bücherwand des düsteren Herrenzimmers stehen blieb. Das Buch Hiob! Mit dem goldenen Kneifer auf der Nase begann er zu lesen. Weil er sich aber nicht konzentrieren konnte, stellte er das Buch kurz darauf an seinen Platz zurück. Hiob! »Man hat zumindest die Pflicht, das Leben zu leben, das Gott einem bereitet hat.«

      So versuchte er sich wieder in den Zustand des frommen Wohlgefühls der Geborgenheit im Glauben zu versetzen, doch es gelang ihm nicht mehr. In seinem Herzen verspürte er eine Leere, die sogar noch schwerer wog als die Trauer um seinen Sohn. Sein Gott versagte ihm nun die Gnade und den Segen. Deshalb trauerte er doppelt und beneidete fast seinen Erzfeind Streisand. Der kannte den Zweifel nicht. Seine enge Welt schien immer in Ordnung.

      Der gute Ort und der Zwölffingerige

      Die Beerdigung des kleinen Toten fand kurz vor Sonnenuntergang statt, als die Erde wieder hart gefroren war und der Abendhimmel im Osten schon kobaltblau leuchtete. Die Trauergemeinde, die Nachbarn und alle Verwandten der Kohanim, die aus Zempelburg, Tuchel, Lianno, Bukowitz Krupoczin, Wiersch und Jeschewo, teils mit dem Zug bis Laskowitz, teils auf Pferdewagen und mit Kutschen, hastig angereist waren, stolperten in der Abenddämmerung über den jüdischen Friedhof von Schwetz bis zur Familiengrabstätte der Kohanim, die auf dem Ehrenteil des Friedhofes lag. Und weil bei gläubigen Juden in Schwetz nicht nur der Tod, sondern auch die Beerdigung Männersache war, trauerten die Frauen für sich daheim, barfuß auf dem Boden kauernd, mit Asche auf dem Haupt.

      Die auf dem »Guten Ort«, dem jüdischen Friedhof, versammelten Männer trugen Gebetsumhänge, pomadisierte kohlschwarze Bärte nach Kaiserart, auf dem Kopf modische schwarze Homburger, meist aber feierlich glänzende Zylinder. Im letzten rötlichen Dämmerlicht über der Weichsel, das man westlich von der Anhöhe des Friedhofs noch sah, umringten sie in stummen Gebeten, mit und ohne Gebetsschal, das steingefasste Kindergrab.

      Samuel trug den Gebetsumhang und sprach das Kaddisch für seinen Kronprinzen:

      »Erhoben und geheiligt werde Sein großer Name in der Welt, die neu geschaffen werden soll, wo Er die Toten zurückrufen und ihnen ewiges Leben geben wird, die Stadt Jerusalem aufbauen und Seinen Tempel in ihre Mitte setzen wird und allen fremden Götzendienst von der Erde ausrotten und die Verehrung des wahren Gottes einsetzen wird.

      Oh, möge der Heilige, gelobt sei Sein Name, Sein Reich und Seinen Ruhm erstehen lassen in euren Tagen und dem Leben des ganzen Hauses Israel schnell und in naher Zeit, so sprechet: Amen!«

      Die Gedanken der Männer konnte man in der nachtblauen Luft fast lesen: Der würde nun keinen Sohn mehr haben, der ihm am Grabe einmal das Kaddisch sprechen könnte.

      Der Kohanim tat ihnen leid. Aus diesem Grunde waren sie auch so zahlreich erschienen. Und wer kein Mitleid hatte, wollte wenigstens sehen, wie der Mann sich angesichts des Untergangs seines Geschlechts hielt.

      Bald nach der Beerdigung des kleinen Benjamin ging das Leben seinen gewohnten Gang. Die sieben Töchter entfalteten wieder ungestört ihre Tyrannei über Haus und Hof. Dabei wurden sie mehr schlecht als recht von einer spindeldürren Gouvernante aus dem Hannoverischen in Schach gehalten. Madame Bertha hatte eine kapitale Nase und war gegen Kost und Logis dazu angestellt, den Mädchen dialektfreies Deutsch, Französisch und Benimmse beizubringen. Als einziges, für alle Zeiten fortlebendes Erziehungsresultat der Madame überdauerte nur das Wort »merde«. Dieses Wort entfuhr der Überlieferung nach dem General Cambronne angesichts der verlorenen Schlacht von Waterloo. Für nachgeborene höhere Töchter im französischen Sprachraum wurde es später als »Le mot de Cambronne« so benutzbar wie der Götz von Berlichingen für den deutschen Kleinbürger. Doch das Mot de Cambronne blieb wegen seiner schillernden Vornehmheit bei den Kohanim vom Götz unerreicht und diente deshalb drei weiteren Generationen zum zierlichen Fluchen. In der Kurzform: »Le mot!«, oder einfach »Cambronne!«

      Als man Madame Bertha eines Morgens aus dem Kanal zum Sägewerk fischte, dachten alle, dass sie aus Verzweiflung über ihre Erziehungsaufgabe ins Wasser gegangen wäre. Ein Opfer der sieben biblischen Plagen!

      Die Obduktion ergab jedoch ein eher klassisches Motiv. Die Madame war gesegneten Leibes. Wer sie in diese Umstände gebracht hatte, darüber machte sich im Landkreis jeder seine eigenen Gedanken.

      Nachdem Madame Bertha ins Jenseits entschwunden war, hatte man den Eindruck, dass Mindel Kohanim ihr Leben auf Erden nur noch simulierte. Wie ein Gespenst mit nur zeitweiligem irdischem Aufenthalt huschte sie durchs Haus. Doch aller Abkehr von der Welt zum Trotz hielt sie ein Auge wie aus wachsamem Stahl auf die Verteidigung des Familienbesitzes gegen alle Dienstboten und Angestellten, die »angeborenen Feinde der Familie«, gerichtet.

      An ihren ausgemergelten Hüften klirrten drei riesige Schlüsselbunde von Vorratskammern, Kellern, Schränken und Laden. Jede Serviette, jeder Teelöffel, jedes Brikett, selbst jeder leere Sack, jede Flasche war abgezählt und notiert. Man spottete sogar, dass Mindel jede Erbse, Bohne und sogar jedes Reiskorn zählen würde, denn seit dem Tod des Erben hatte sich Mindels Sparsamkeit ins Wahnhafte gesteigert.

      Hätten mein Urgroßvater und meine Großmutter und Großtanten nicht lautstark dagegen protestiert, abends in klammen Räumen bei einer heruntergedrehten, funzelnden Petroleumlampe zu sitzen, während Samuel Kohanim wie üblich der Familie aus der Zeitung und ausgewählten Büchern vorlas, wäre Mindel sicher aus Geiz irgendwann in totaler Finsternis verhungert oder erfroren. Selbst wenn die Sabbatkerzen in der Menora entzündet waren und die Familie eigentlich feierlich und guter Dinge bei Tisch sein sollte, warnte Mindel ständig vor den Gefahren der Verschwendung und Völlerei. »Du wirst dir noch den Magen verderben«, unkte sie, wenn jemand nochmals zugriff. »Mit vollem Magen ist schlecht ruhen«, warnte sie oder: »Völlerei ist eine Todsünde, nicht nur bei den Katholiken!«

      Bald hatte sich die Familie auch an diesen Tick gewöhnt wie an eine unvermeidbare Naturerscheinung. Man übersah und überhörte es einfach. Lediglich wenn Gäste da waren, nagelte man sie mit Blicken fest. Oft saß Oda mit am Tisch, weil Samuel es so angeordnet hatte. Die Stieftochter des Zuckerbarons hatte stets den Appetit einer zehnköpfigen Hydra, die Beute auf Vorrat machte. Nach Samuels Meinung sollten sich die »kiesetigen« Großtanten und meine Großmutter an Odas gesundem Appetit ein Beispiel nehmen. Mindel blickte dann den ganzen Abend gekränkt drein, als würde man sie bestehlen. Dabei bestand überhaupt keine Notwendigkeit zum Sparen, im Gegenteil. Die Geschäfte der Kohanim gingen glänzend. Und fast schien es sogar, dass sie umso glänzender gingen, je weniger Interesse mein


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