Mischpoke!. Marcia Zuckermann

Mischpoke! - Marcia Zuckermann


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sich ihr Gatte mit Wohltätigkeit.

      Und dabei ging es ihm nicht um abstrakte Wohltaten wie Spenden oder mildtätige Vereine, die die Not der Juden im Kreis Tuchel und Zempelburg lindern halfen. Samuel war immer am konkreten Fall interessiert: An Ruth Lewinski etwa, eine stattliche rothaarige Witwe mit sechs kleinen Kindern. Ruth Lewinski ließ er eine kleine Rente aussetzen und erkundigte sich regelmäßig nach dem Gedeih und den schulischen Fortschritten der Kinder. Diese ungewöhnliche Anteilnahme am Schicksal der schönen Witwe und ihrer Nachkommenschaft fanden die Klatschbasen der Gegend befremdlich genug, um sich die Mäuler darüber zu zerreißen. Nachdem selbst der Apotheker im entfernten Zempelburg anzügliche Anspielungen machte, wurde der wohltätige Verkehr nur noch schriftlich – oder nach Einbruch der Dunkelheit vollzogen, wie andere meinten, die Samuel Kohanim auch in Verbindung mit Madame Berthas Unglück bringen wollten.

      Meist ging es bei Samuel Kohanims Drang zur Mildtätigkeit aber nur um Max. Max, der eigentlich Maxim Gulkowitsch hieß, war der Sohn russischer Juden aus dem Dorf Wiersch. Als der Junge sieben Jahre alt war, bekam er Kinderlähmung und hinkte seitdem stark. Außerdem hatte er von Geburt an jeder Hand sechs Finger. Für Abergläubige war ein Sechs- oder Zwölffingeriger ohne Frage ein vom Teufel Gezeichneter. Weil er und die Seinen aus diesem Grunde jederzeit damit rechnen konnten, dass irgendwer ihnen das Haus anzünden würde, um den Teufel auszutreiben, musste Max schleunigst das Dorf und seine Familie verlassen. Aus dem Makel der Zwölffingerigkeit wusste Max jedoch Kapital zu schlagen. Anstatt sich aber auf Jahrmärkten herumzeigen zu lassen, zog es ihn aufgrund der Überlegenheit von zwölf Fingern zur Musik. Max wollte Pianist werden. Dazu fehlte ihm nur ein Piano. Im Dorfgasthaus wurde er fündig und drosch auf das Pianoforte des »Schwarzen Ochsen« ein, bis ihn der Wirt hinauswarf, zumal er partout keine Polkas, Märsche und Walzer spielen wollte. Die an Besessenheit grenzende Leidenschaft, mit der Max immer wieder irgendwo Partituren aufstöberte, auf Packpapier und Tapetenrollen abschrieb oder fotografisch im Gedächtnis speicherte, dann ein Klavier aufspürte und dieses mit der Hemmungslosigkeit eines Psychopathen traktierte, um dann unter Einsatz aller Pedale komplette Konzerte aus dem Kopf herunterzuhämmern, machte auf Samuel tiefen Eindruck. Eines Tages ließ er Max auf seinen Landauer steigen und sich beim alten Grafen Zygmund ansagen.

      »Er ist ein Genie«, erklärte Samuel dem verblüfften Grafen Zygmund, der sich gerade mit Gästen aus Warschau zum Kartenspiel niedersetzen wollte. Im Schloss stünde doch ein Konzertflügel, ein echter französischer Érard-Flügel, den niemand bespiele, stellte er fest.

      »Där ist schon seit Ääääwigkeiten verstimmt«, warnte die Gräfin Valeska muffig.

      »Ein solches Instrument kann doch heutzutage ohnehin keiner mehr reparieren«, erläuterte ihr gräflicher Gatte. »Da müsste man schon nach einem Spezialisten aus Paris schicken.«

      »Brahms spielte auf so einem Érard«, flüsterte Max begeistert, als er davon erfuhr. Er bat und bettelte, dass man alles für den Erhalt dieses wertvollen Instruments tun müsse, bis auch Samuel der Gedanke gefiel.

      Einen neuen Vorstoß ihres Juden wollte Pani Valeska sogleich im Keim ersticken. Der Kohanim war ihr unheimlich, und sie war entschlossen, »den Kerl in seine Schranken zu weisen«. Wenn der Graf den Jungen auf dem Flügel spielen lasse, würde er, Samuel Kohanim, den Flügel auf seine Kosten stimmen lassen, für einen guten Lehrer sorgen und auch für dessen Kost und Logis aufkommen. »Man könnte gelegentlich kleine Soireen und Musikabende im Schloss veranstalten«, lockte er. Zygmund Solkowsky konnte dem Kohanim nichts abschlagen. Außerdem bot sich so eine billige Gelegenheit, mit seiner »Grandeur de Cœur« und als Förderer der schönen Künste zu glänzen. Die Idee gefiel ihm umso mehr, zumal sie ihn nichts kosten sollte. Man ließ das Wunderkind nach langem Hin und Her dann zum Schloss bringen.

      Max war ein unansehnlicher, dicklicher Bursche von mittlerweile elf bis zwölf Jahren, dem die schwarzen Haare wie Borsten wild vom Kopf abstanden. Darunter wölbte sich ein Gesicht voller Pickel, in dem ein mürrischer, wulstiger Mund hing wie eine Wurst auf einem Reibekuchen. Kurzsichtig kniff Max seine schwarzen Knopfaugen zusammen und schaute mit der milden Verachtung des Berufenen auf seine potentiellen Wohltäter herab wie auf ein paar nützliche Lurche.

      Der Graf war entzückt und entsetzt zugleich: »Na, seht euch den an!«, krähte er. »Welch ein Exemplar! Ha, ha, ha! Und der hat Talent, sagen Sie?« Dabei kneistete er durch sein Monokel in Richtung Max wie auf ein interessantes unbekanntes Tier.

      »Dobje! Na, was will er uns denn spielen?«

      »Chopin! Klavierkonzert Nummer eins!«, versetzte Max hochmütig, das belustigte Auflachen seines Publikums überhörend hinkte er hinüber zum Flügel, klappte den Deckel hoch, setzte sich umständlich, spreizte dann feierlich die Hände mit den zwölf Fingern, die er für eine Weile wie ein Magier bewegungslos in die Luft hielt, und hieb dann wuchtig in die Tasten.

      Der Graf und seine Gäste fuhren vor Schreck zusammen. Die Gräfin bekreuzigte sich. Der Flügel klang wie ein Haufen Glasscherben, die in einer alten Zinkwanne schepperten. Nur vergaß man das sogleich, denn Max transponierte das komplette Konzert völlig frei in eine erträglichere, weniger verstimmt klingende Tonlage. Eine spontane Abstraktionsleistung, die Samuel erst in Begeisterung und dann in andächtiges Staunen versetzte. Ein wahres Genie!

      Maxims Spiel war mal heiter, mal filigran und leicht wie ein Feenzauber, dann wieder hämmernd und dramatisch, ein wütender Strudel aus Tönen. Die Anwesenden lauschten ergriffen, denn die Glasscherben in der Zinkwanne schepperten nur noch ganz selten.

      Das Gehörte war selbst ungeübten Ohren tatsächlich von anderer Art als das übliche Klavierspiel höherer Töchter. Kein eifriges Geklimper wurde hier verschämt mit zittrig-bleichen Schweißfingern zum Besten gegeben. Hier entlud sich eine Naturgewalt, die trotz vereinzelter Misstöne und verstimmt flirrender Sphärenklänge die Zuhörer gegen ihren Willen in Bann schlug oder doch zumindest erstarren ließ. Als der letzte Ton verklungen war, knallte Max den Deckel des Flügels laut zu, sprang auf, und ohne auf Beifall zu achten, eilte er hinaus. Graf Zygmund war »très enthusiasmé«. Der Gräfin stand immer noch der Mund vor Schreck oder Staunen offen. Offenbar war sie unschlüssig, wie sie dem Phänomen begegnen sollte. Dunkel ahnte sie wohl, dass jeder Widerstand gegen dieses ruppige Wunderkind zwecklos wäre. Sie entschloss sich zu einem säuerlichen Lächeln.

      Max sollte, wann immer er wollte, im Schloss spielen, und er durfte den Grafen ab sofort zu seinen Förderern zählen. Also ließ man »das Genie« wieder in den Salon rufen, um ihm die gute Nachricht persönlich mitzuteilen. Max lächelte fad. Mit demselben Gleichmut, mit der Juden über Jahrhunderte Missetaten über sich ergehen ließen, nahm Max nun diese gojische Wohltat hin. Nur mit der Aussicht auf einen exklusiv bespielbaren Érard-Flügel und um seinen Wohltäter, den Kohanim, nicht zu brüskieren, dankte er brav der Herrschaft, wie man jemandem dankt, der lediglich seiner Pflicht und Schuldigkeit vor Gott nachkommt, also einer reinen Selbstverständlichkeit. Eigentlich nicht der Rede wert.

      Bald nahmen auch die sieben biblischen Plagen Anteil an den musikalischen Fortschritten des zwölffingerigen Jungen, der es wagte, sie, die sieben Prinzessinnen, noch nicht einmal zu grüßen.

      »Wer denkta denn, dassa is’?«, regte sich Fränze auf und stemmte aufgebracht die Fäuste in die Hüften. Er litte am Stimmbruch, ließ Max sich entschuldigen, und schließlich hätten die Schwestern im ganzen Kreis einen gewissen Ruf.

      Für den gewissen Ruf passte Elli Max am Fliedergebüsch ab und gab ihm so lange Kopfnüsse, bis er schwor, fortan nur noch das Gegenteil zu behaupten. Es dauerte nicht lange, und Jenny und Franziska lagen dem Vater in den Ohren, dass auch sie das Klavierspiel lernen wollten, »wie ganz richtige Damen«.

      Ein hochglänzendes schwarzes Klavier mit golden schimmernden Messingleuchtern wurde von vier Klavierpackern, stark wie Ackergäule, mit breiten Ledergurten den Hügel hinauf, hoch ins Haus und umständlich in den Salon gehievt. Nur konnte man Mindel schwer davon überzeugen, dass es nicht das Geringste zu sparen oder zu schonen gäbe, wenn sie das gute neue Klavier unter Verschluss hielte. Die Mädchen fanden das Klavier trotzdem immer wieder verschlossen vor und mussten jedes Mal betteln und erklären, warum sie gerade jetzt spielen müssten. Irgendwann hatte Fränze den rettenden Einfall.

      »Na,


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