Mischpoke!. Marcia Zuckermann

Mischpoke! - Marcia Zuckermann


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sich die Schwestern zu. Hier bahnte sich ein mittlerer Skandal an. »Mensch, das ist ja Oda!«, flüsterte Fanny ihrer jüngeren Schwester Martha zu. »Nebbich!«, ranzte Martha beleidigt zurück, denn Oda war Marthas beste Freundin. »Doch!«, beharrte Fanny. »Guck mal ganz genau hin. Das ist deine Zucker-Oda und keine andere!« Jetzt erkannten die anderen Schwestern sie auch. Alle prusteten los. Das theatralische Gestikulieren des verdächtigen Klageweibes brach daraufhin jäh ab. Ihr Klagegeschrei begann seltsam zu zittern und ging in ein Glucksen über. Hals über Kopf lief sie davon. Die anderen Klageweiber und die Frauen von der Beerdigungsgesellschaft glotzten ihr blöde nach. Johlend stolperten ihr die sieben Kohanim-Mädchen in Holzpantinen auf dem glasigen Schnee rutschend und halb ausgleitend hinterdrein.

      Draußen an den vereisten Brombeersträuchern hinter der Scheune riss sich das fliehende Klageweib triumphierend das Kopftuch herunter: »Na?! Da seid ihr baff, was?!« Oda! »Kolossal epochal!«, grölte Elli und boxte Oda anerkennend auf den Oberarm. »Enorm schneidig, die Jungfer! Da schau eener guck!«

      Die Mädchen bogen sich vor Lachen. Dem weltweiten Lachverbot bei Trauer zu trotzen, welch ein herrlich ruchloser Spaß! Reihum äfften sie das exaltierte Getue der Klageweiber nach. Seltsamerweise war die protestantische Oda ihnen allen im Jiddeln überlegen. Kreischend stießen sie die Zeigefinger in Richtung Oda und krümmten sich vor Lachen. Tränen liefen ihnen die Wangen runter, bis sich Martha vor Lachen in die Hose gemacht hatte. Ein neuer Grund für Gejohle und juchzendes Gelächter. Doch plötzlich, wie aus dem Boden geschossen, stand ein streng blickendes Gespenst im matschigen Schnee: der Vater!

      Als Erste fasste sich Franziska. Knicksend mit vor Lachen geröteten Augen und sich wegen der Seitenstiche das Zwerchfell haltend, meinte sie so harmlos wie möglich: »Tschuldigung, Papa! Aber diese Klageweiber! Wir konnten einfach nich’ mehr. Und anstatt vor …« Wieder schüttelte sie ein Lachkrampf: »… anstatt vor der Leiche zu lach…, zu laaaacccchhhheeeennnn …« Wie Fontänen spritzen ihr dabei die Lachtränen aus den Tränendrüsen. Ihr Kopf lief puterrot an. Ein neuer Lachkrampf zwang sie halb in die Knie.

      Stumm und mit zornig zusammengepresstem Mund verwies mein Urgroßvater seine ungeratenen Töchter ins Haus. Der herrisch ausgestreckte Arm mit gebieterischem Zeigefinger genügte. Wie eine von Füchsen gehetzte Gänseschar stoben sie auf und davon. Fränze, vom Gelächter noch geschwächt, taumelte als Letzte hinterdrein und hielt sich japsend die Seiten. Nur Oda blieb mit gesenktem Haupt stehen, trat verlegen von einem Fuß auf den anderen, wünschte sich ganz weit fort und fror plötzlich ganz fürchterlich. Allein stand sie nun vor dem hoch aufgeschossenen Mann, den sie gleichermaßen fürchtete und heimlich bewunderte. Verglichen mit ihrem feisten Vormund daheim wirkte der Vater ihrer Freundin Martha richtig vornehm, fand sie. Außerdem hatte er den sephardisch-schmalen Schädel, was man in ihren Groschenromanen »edel« nannte. Sein Haupthaar mit Bart umrahmte das bleiche Gesicht mit den skeptischen bernsteinfarbenen Augen wie ein Helm mit offenem Visier. Nur seine linke Augenbraue flatterte. Ein Familientick, wie Oda von Ihrem Stiefvater wusste. Samuel Kohanims Stimme wollte beherrscht und mit Autorität auftrumpfen. Dazu klang sie aber zu rau, wütend und verletzt. Die fünfzehnjährige Oda schämte sich jetzt tatsächlich in Grund und Boden. Ein Wohltäter für die Armen war der Kohanim und ein Förderer der Künste! Die Geschichten ihrer geldgierigen Familie wussten nichts von Kunstsinn oder gar Mildtätigkeiten zu berichten. Bei ihr daheim drehte sich fast alles um Geschäftsanbahnung, Bankenkräche, zu Protest gegangene Wechsel, Geldheiraten, Erbschaftsstreitigkeiten, Prozesse um Liegenschaften, Intrigen und Profit. »Jesses, wie banal!«, stöhnte Oda jedes Mal. Sie schämte sich der ignoranten Borniertheit und eingefleischten Gewinnsucht ihrer Sippe. Ihr Clan war ein unübersichtliches Konglomerat von Russisch-Orthodoxen sowie Protestanten und Lutheranern, in der sich alle von Herzen spinnefeind waren. Nur bekamen Oda und ihr älterer Bruder Rudolf seltener etwas von den heftigen innerfamiliären Glaubenskriegen und Geldgesprächen mit. Sie wussten nur, dass ihrem leiblichen Vater, dem von Güldner, einst eine russisch-orthodoxe Beisetzung verwehrt wurde. Der Grund des Popen: Die Kinder des Verblichenen, sie und Rudolf, waren nicht russisch-orthodox getauft! Die ganze Trauergesellschaft machte deshalb damals mit dem Sarg vor der russisch-orthodoxen Kirche in Lodz kehrt und begrub den Leichnam bei den Lutheranern. Seitdem waren die von Güldners lutherisch und betrachteten fortan alle Russisch-Orthodoxen in der Familie als Verräter.

      Für Gustav von Steinfeld, Odas Stiefvater und Vormund, waren die Mündel Rudolf und Oda als Stiefkinder aus der ersten Ehe der Frau Baronin zweitrangig. Oda und Rudolf mussten deshalb am Katzentisch oder bei den Dienstboten in der Küche essen. Schon um nicht weiter den Hänseleien ihrer privilegierten nachgeborenen sechs Geschwister ausgesetzt zu sein, die den Katzentisch regelmäßig mit Brotkügelchen und Knochen unter Beschuss nahmen, wenn die Erwachsenen wegsahen, zogen Oda und Rudolf die Gesellschaft der Dienstboten bald vor. Für diese Schmach rächten sie sich am Rest der Familie, wo es nur ging. Weihnachten, als sich die angereiste Verwandtschaft in Festtagslaune zum Ball versammelt hatte, erschienen Rudolf und Oda nicht zur Festtafel. Als man sie holen ließ, zeigten sie sich nicht in der angeordneten Festtagsgarderobe, die ihnen aus Bromberg geschickt worden war. Sie stolzierten in den üblichen schäbigen Kleidern, einem erbarmungswürdigen Sammelsurium aus alten abgelegten fadenscheinigen Kleidern der Familie, herum. Diese Kleidung taugte in anderen besseren Häusern höchstens für Dienstboten oder als milde Gabe an die Pächterskinder in den Gesindekaten. »Zur Feier des Tages tragen wir heute die ganz guten Sachen!«, verkündeten sie jubelnd.

      Die Eltern waren vor der ganzen Familie und im Landkreis blamiert. Rudolf und Oda bekamen eine derartige Tracht Prügel, dass sie bis Neujahr in ihrem aufgezwungenen Festtagsstaat weder sitzen noch liegen konnten. Trotzdem fühlten sie sich wie Sieger. »Keile vergeht, Arsch besteht!«, hieß die Losung.

      Am Neujahrsmorgen erwachte Oda deshalb außer mit einem verbläuten Hinterteil auch mit einer Idee. Ihre penibel geführte Liste über erhaltene Schläge und erlittene Schikanen legte sie ad acta. In ihrer Wut entwarf sie einen Kriegsplan nach dem anderen. In Geheimschrift, in die nur ihre Freundin Martha Kohanim eingeweiht war, verzeichnete sie jede mögliche Revanche, um sich daran zu erbauen. »Oda, mir graut vor dir!«, meinte Martha, aber gleichermaßen genoss sie es. Der Klageweiberstreich war Teil dieses Plans. Kein sonderlich guter, wie ihr jetzt schwante.

      »Ich werde mit deinem Vormund reden müssen. Wolltest du unsere Religion verhöhnen, oder was hast du dir dabei gedacht?« Kopfschüttelnd griff Samuel Kohanim nach Odas Kinn, drehte prüfend ihren Kopf hin und her und studierte eingehend die Asche in Odas Gesicht und dann ihre bizarre Verkleidung, die an der Ziehtochter des deutsch-russischen Schnaps- und Zuckerzaren von nebenan doppelt seltsam aussah.

      Oda traten nun vor Reue Tränen in die Augen. Wenn sich doch der Erdboden öffnete!, betete sie still. Wie sollte sie Marthas Vater erklären, dass neben Rachegelüsten gegen die eigenen Eltern manche Kinder einfach der Verlockung nicht widerstehen können, für fünf Minuten eine Bettlerin, eine Marktfrau oder ein jüdisches Klageweib oder sonst eine andere Person zu sein? Das war doch, als lebe man ein anderes Leben auf Probe. Warum verstanden das Erwachsene eigentlich nicht?

      Die Einzige, die sie da verstand, weil sie auf ihre ganz eigene Art das gleiche Laster teilte, war Martha, die fünfte Kohanim-Tochter.

      Die Freundschaft zwischen Oda und Martha blühte im Verborgenen. Zum Harmoniezwang des Landkreises Schwetz gehörte, dass Deutsche, Polen, Kaschuben und Juden in der Stadt und den Dörfern zwar gemeinsam siedelten, dabei aber in Wahrheit drei bis vier streng voneinander getrennte Welten bildeten, die sich feindselig belauerten. Hinzu kamen die nicht minder bewachten Standesschranken. Selbst die niedrigste Küchenmagd der polnischen Grafenfamilie fühlte sich so der Hüterin des Spülsteins der deutsch-russischen Fabrikantenfamilie von Steinfeld oder gar den Dienstboten des noch weiter nachrangigen jüdischen Holzkönigs Kohanim überlegen.

      »Na, wir sprechen uns noch!«, drohte Samuel Kohanim, und seine flatternde Augenbraue gab dazu ein optisches Tremolo. Gemäß der Logik der Verhältnisse schloss Oda daraus, dass der Kohanim sie nicht bei ihrem Vormund anschwärzen würde. Wenngleich ihre beiden Familien Nachbarn waren, verbot es die Etikette, miteinander zu verkehren. Die alteingesessenen jüdischen Kohanim betrachtete man als Parvenus in Schwetz und Preußen. Sie galten nach der Logik der Zeit den ebenfalls neureichen von Steinfelds, die ihr Adelsprädikat einst in


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