Mischpoke!. Marcia Zuckermann

Mischpoke! - Marcia Zuckermann


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Selmas Marotte.

      Alle ihren Gedanken nachhängend, standen die sieben Kohanim-Töchter so in Langeweile erstarrt im überheizten Schlafzimmer. Tapfer kämpften sie gegen das Gähnen. Zu gern hätten sie im Stehen geschlafen. Angeblich beherrschten die livrierten Hausdiener im gräflichen Schloss das Stehendschlafen, ohne umzufallen.

      Das Boudoir, wie das Schlafzimmer von den Urgroßeltern genannt wurde, war vollgestellt mit ausladenden dunklen Möbeln. Diese wurden von bis zur Erschöpfung geschonten Teppichen belagert. Das schmalbrüstige Doppelfenster hatte meine Urgroßmutter aus Angst vor tödlicher Zugluft vom Knecht zunageln lassen. Wild ragten die überlangen, rostigen Dachlattennägel aus dem weiß lackierten Fensterrahmen. Fast anklagend. Die einzige Attraktion bot die rot glühende Ofenklappe des grünen Kachelgebirges. Ab und zu ließen die sieben Mädchen den Blick zu den tanzenden Fransen am Lampenschirm wandern. Dann wieder spähten sie so teilnahmsvoll in die Wiege, als läge dort ein Insekt.

      »Der macht nicht mehr lange!«

      »Das Mensch«, wie die Mädchen untereinander den zwergenhaften gelben Greis in der Wiege nannten, war ihrer Meinung nach schon viel zu lange der Mittelpunkt der Familie.

      Fast zwei Jahre schon waren sie, die Kohanim’schen Prinzessinnen, für die Eltern praktisch Luft. Obendrein sollten sie noch lieb zum Brüderchen sein.

      Lieb zu einem, der sie von heut auf morgen entthront hatte? Eine Zumutung mit der Quintessenz, dass sie ihm von Herzen alles Schlechte wünschten. Und dass dies nun tatsächlich eintrat, betrachteten sie als ein göttliches Zeichen. Als Dank für ihre erhörten Gebete gelobten sie Frömmigkeit bis ans Ende ihrer Tage.

      Die stämmige Elli, die erste Mittlere, und die zweite Mittlere, Franziska, lugten beide prüfend in die Wiege. Sie waren der Ansicht, dass es nun reichte. Manchmal muss man dem Schicksal auf die Sprünge helfen!

      »Corrigez la fortune!« Das war der Satz, der ihnen am besten an der Minna von Barnhelm gefallen hatte. Verstohlen blinzelten sie sich zu und legten auf dem Rücken die Zeigefinger der rechten und linken Hand über Kreuz. Dabei lächelten sie sanft wie Engel. Der kleine Benjamin in der Wiege lief blau an. »Mama!«, kreischte Martha los, »Elli und Fränze haben das Kreuz gemacht! Das hab ich ganz genau gesehen!«

       Das Kreuz, das Ketzerzeichen! Das Zeichen des Todes!

      »Stimmt ja gar nich’! Die lügt doch, dass sich die Balken biegen!«, blökte Franziska entrüstet zurück. »Wie immer!«, sekundierte Elli patzig.

      Weil Mindel weiter tränenblind in die Wiege starrte, nutzte Elli die Gunst des Augenblickes. Katzenschnell griff sie Martha in den roten Haarschopf. Mit dem Ellenbogen knuffte sie ihrer Schwester in den Magen. Von der anderen Seite trat Franziska ihr gegen das Schienbein. »Olles Mistvieh, olles! Da hastes, du Falschpetze!«

      Martha heulte auf wie eine Schiffssirene.

      Für Ketzerzeichen und Raufen hätte es normalerweise mindestens einen Tag Stubenarrest bei trocken Brot und Schweinekartoffeln gegeben. Für jedes Vergehen einzeln. Doch an so einem Tag war nichts normal. Die reguläre Strafe blieb deshalb aus.

      Des Gezänks ihrer streitsüchtigen Töchter überdrüssig, verordnete meine Urgroßmutter nur lahme Gott-verhüte-Gebete für alle.

      Selma, die Zweitälteste, die alle Schwestern an jüdischer Frömmigkeit übertraf, freilich ohne dass ihr eine davon auf diesem Gebiet Konkurrenz machen wollte, spuckte andeutungsweise aus. Das taten sonst nur die Chassidim, wenn von Abtrünnigen, Ketzern, Gojim oder Unreinem und Sünde die Rede war. Danach legte sie scheinheilig den Kopf schief. Nach links. Diese Marotte hatte sie sich von den katholischen Votivbildern und Heiligenfiguren in den katholischen Kirchen abgesehen.

      »Diese bigotte Kuh!«, zischte die Flora.

      Die anderen Schwestern verdrehten die Augen. Selmas Gefrömmel war schon eine schwere Prüfung, das Wort »bigott« war eine weitere. Mit ihrem Tick für Fremdworte und geschwollenem Gerede nervte sie seit längerem die Jüngste, Flora. Ständig hing sie über den väterlichen Bänden der Enzyklopädie auf der Suche nach seltsamen Wörtern, die sie aufspießte und ausstellte wie ein Sammler seltene Schmetterlinge.

      Die Vorlieben und Eigenheiten der elf verstorbenen Geschwister sind nicht überliefert. Es geht nur die Fama, dass von den insgesamt achtzehn Kindern, die meine Urgroßmutter Mindel geboren hatte, keines Plattfüße hatte. Darauf war Mindel sehr stolz. Ob Säuglinge tatsächlich schon Plattfüße haben konnten oder nicht, blieb seither umstritten.

      Das achte, gerade noch lebende Kind, der jüngste Sohn Benjamin, der das Geschlecht der Kohanim in Westpreußen fortsetzen und den großartigen Stamm meiner Familie halten sollte, siechte wie alle seine Brüder vor ihm nun seinem frühen Ende entgegen.

      Die fünf verstorbenen Mädchen zählten in der familiären Plattfußstatistik nicht. Wahrscheinlich trauert eine Mutter, die elf ihrer Kinder, und darunter sämtliche Knaben, begraben hat, schon aus Gewohnheit. Dass die Hälfte aller Kinder starb, war normal. Doch das vollständige Knabensterben ließ meiner Urgroßmutter keine Ruhe. Sie grübelte über die möglichen göttlichen Gründe, warum der männliche Samen der Kohanim nicht mehr gedeihen wollte. Woran lag’s? Wer war schuld?

      Samuel, mein Urgroßvater, suchte in den Schriften und beim Rabbi nach Antworten: ›War es der unergründliche Ratschluss des Allmächtijen?! Na, von wejen!‹ Im Geiste ging Mindel Kohanim ihren Zweig der Familie nach einem ähnlichen Phänomen durch: So was hat es in unserer Familie noch nie gegeben! Es war ganz klar: Schuld waren die angeheirateten Kohanim! Das erklärte sich ihrer Meinung nach von selbst: Der Stamm war einfach zu alt. Dieser Zweig des Priestergeschlechtes der Kohanim oder Cohn war nach gut vier- bis fünftausend Jahren einfach nicht mehr stark genug, um kräftige Söhne in die Welt zu setzen. ›So verhält es sich doch! Da braucht man bloß in die Natur zu schauen!‹

      Dabei dachte Mindel an den uralten Kirschbaum im Hof. Alt war er, mit weit ausladender Krone über dem Schieferdach des klobigen Gutshauses. Jeden Mai schneiten Abertausende winzige weiße Blüten auf das braune Kopfsteinpflaster. Sehr schön anzusehen, aber ohne eine einzige Frucht.

      Mindel Kohanim, die Tochter von Juda Beinesch aus dem russisch-polnischen Inowrazlaw, machte sich ihren eigenen Vers drauf. Abgesehen von der üblichen göttlichen Willkür betrachtete sie die nachhaltige Inzucht der Söhne Aarons als Grund ihres Unglücks. Denn wie jeder Jude wusste, waren die Kohans, Kohns oder Kohanim das Priestergeschlecht der Juden, alle direkte Nachkommen von Moses’ Bruder Aaron. An dem skandalösen Sündenfall mit dem Goldenen Kalb war Aaron schuld, der seine Pflicht als Glaubenshüter vernachlässigt hatte. Angeblich steckte Aarons heidnische Ehefrau oder Nebenfrau dahinter, die dem Baal-Kult mit dem heiligen Rind wieder Geltung verschaffen wollte. Zur Strafe für die frevelhafte Pflichtvergessenheit hatte Moses Aaron und seine Nachkommen dazu verurteilt, künftig weder eine konvertierte Frau aus anderen Völkern noch eine geschiedene oder verwitwete Jüdin heiraten zu dürfen.

      Eine große Auswahl an angemessenen Bräuten hatten die Cohns oder Kohanim in Westpreußen und Polen daher nie. Wenn die von den Eltern bestellten Brautwerber in der Ferne keine geeignete Braut fanden, dann wurde eben ein junges Mädchen aus der Familie geheiratet. Die legendäre Cousine. Das war das Einfachste. Aber so eine war Mindel nicht.

      »Moses’ Einfall hin oder Gottes Plan her, die Natur liest keine Thora, sondern regiert nach eigenen Gesetzen!« Diese Erkenntnis behielt Mindel Kohanim freilich für sich. Außerdem hielt sie sich zugute, eine wohlerzogene Jüdin aus dem Großherzogtum Warschau zu sein. Sie entstammte immerhin der berühmten Familie Katzenellenbogen[1]. In mütterlicher Linie war sie sogar eine echte Nachfahrin des sagenhaften jüdischen Eintagskönigs. Jener Ahnherr, der legendäre königliche Steuerpächter Saul Wahl, der am 15. August 1587 für einen Tag König von Polen war. Mit seiner Erhebung auf den polnischen Thron wollte der verzweifelte Thronrat wohl den jahrelang zerstrittenen Adel zur Wahl eines Königs provozieren. Der Coup gelang. Mit einem Juden auf dem polnischen Thron einigte man sich dann innerhalb weniger Stunden. Eine Jüdin mit einer solch sagenhaften halbaristokratischen Herkunft wie Mindel wusste einfach, wann sie zu reden, vor allem aber, wann sie zu schweigen hatte. Schroff und


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