Mischpoke!. Marcia Zuckermann

Mischpoke! - Marcia Zuckermann


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auf ein unabwendbares Unheil zuzusteuern. Die Ironie des Schicksals wollte aber, dass ausgerechnet er, der immer den Optimismus des Fortschrittsgläubigen gepredigt hatte, jetzt immer ratloser wurde und sich vorkam wie der Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht mehr loswurde. »… und darum straft ihn Gott!«

      Diese Verwünschung seines Erzfeindes Rabbi Streisand angesichts des Wegsterbens seiner Erben war das Letzte, woran er jetzt erinnert werden wollte. Andererseits konnte er sich nicht der Frage entziehen, seit wann sich das Verhängnis bei den Kohanim eingenistet hatte und in seinem Hause Unheil auf Unheil ausbrütete wie eine Schlange ihre Eier. Begann das eigentlich vor oder nach dem Schulkrieg?, fragte er sich nun halb abergläubisch und ärgerte sich dabei über sich selbst.

      Dabei war es damals doch nur um die Einführung der allgemeinen Schulpflicht in Preußen gegangen, wie er fand, ein echter Fortschritt für alle, ob Juden, Nicht-Juden, Jungen und Mädchen. Entsprechend setzte er sich dafür ein, und alle Orthodoxen fielen prompt über ihn her. »Ein Jid gehört in die Talmudschule, den Cheder, um den Talmud, die Thora und die Schriften zu studieren. Was soll ein Jid von Ungläubigen lernen, außer ihren Unglauben, Schweinefleisch zu essen und Gotteslästerei? Das ist das Ende der Judenheit und somit das Ende der Welt!«, prophezeite sein Widersacher Rabbi Streisand, der oberste Chassid des Landkreises.

      »Dieser aufgezwungenen Sünde kann ein gottesfürchtiges jüdisches Schulkind nur entgehen«, eiferte der Streisand nach Durchsetzung der Schulpflicht weiter, »wenn, wann immer in der Schule der Ungläubigen der Name des jüdischen Verräters Jesus Christus fällt, das jüdische Kind ausspuckt und dazu ein Vermaledeit-und-ausgemerzt-sei-Er! spricht!«

      Es lag auf der Hand, dass den Schulkindern, die fromm und brav dem Gebot des Rabbi Streisand folgten, keine großen Schulerfolge, dafür jedoch umso mehr Schläge ihrer christlichen Mitschüler beschieden waren. Die Prügel war man gewohnt und ertrug sie stolz als Zeichen der Auserwähltheit vor Gott wie all die Generationen von Juden zuvor. Doch die Dummheit und deren ständige Begleiterin, die Armut, fürchteten die Juden im Landkreis noch mehr. Also schickte man die Kinder, ob es dem Rabbi gefiel oder nicht, in die öffentliche Schule. Dann hatte man auch keine Scherereien mit der preußischen Obrigkeit.

      Das Vermaledeit-und-ausgemerzt-sei-Er! bei Nennung des Heilands dachten sich die jüdischen Schulkinder im Kreis Schwetz bald nur noch im Stillen, das Ausspucken wurde zu einem unverdächtigen »Tja!« oder zu einem verzischten »Tzh«, das dann auch immer seltener fiel, bis man es irgendwann ganz sein ließ und vergaß.

      Eigentlich hatte Samuel Kohanim auf ganzer Linie gesiegt! Jedoch um den Preis, dass Rabbi Streisand den Kohanim nun noch mehr hasste. Samuel aber wollte ein Beispiel an wahrer Gottesgefälligkeit geben und Milde üben. Aus Zartgefühl gegen den unterlegenen Rivalen unterließ er sogar die üblichen Spitzen, für die er berüchtigt war. Damit nicht genug! Nach der nächsten Polemik seines Widersachers demonstrierte er Großmut: Den notleidenden Chassiden spendete er »ein ordentliches Gehalt« für ihren Rabbiner. Dafür hasste der Streisand ihn nur noch mehr, und um zu demonstrieren, dass seine religiösen Überzeugungen so schon gar nicht käuflich waren, hetzte der Rabbi umso heftiger gegen den Kohanim, ja drohte sogar mit dem Bannfluch. Doch genau an diesem Punkt riss Samuel der Geduldsfaden. Ab sofort stellte er seine mildtätigen Zahlungen an die armen chassidischen Brüder ein: »Ja, bin ich ein Schmock, lass mich beleidigen und zahl noch dafür? Soll der Kerl doch zusehen, wer ihn bezahlt!«

      … und dafür straft ihn Gott!? Nebbich!

      Sein Gott war weise und großherzig und kein kleinlicher Buchhalter, der den Menschen mit engherziger Eifersucht und der Grämlichkeit alter Männer zusetzte. Als er nun zu dem kleinen Bündel hinüberschaute, in das er bis vor kurzem all seine Hoffnungen gesetzt hatte, wusste er, dass ihm mit dem letzten Sohn nun auch der letzte Rest seines Glaubens abhandengekommen war. Gott hatte den Kohanim die Gnade entzogen. Wozu hatte er die Sägemühle vom Grafen gekauft, wenn da niemand wäre, der sein Werk fortsetzen würde? Ein weiteres Mal hatte der Kohanim der polnischen Grafenfamilie seine Verbundenheit bewiesen. An den Solkowskys, aber auch an sich hatte er ein gutes Werk getan, als er seinem ehemaligen Dienstherrn noch einmal aus den drückendsten Schulden heraushalf, indem er ihm das Sägewerk zu einem überhöhten Preis abgekauft hatte. Ein letztes Mal. Es war ein Jammer. All das, was Generationen von polnischen Bauern erschuftet und Generationen von Kohanim für die gräflichen Solkowskys als Verwalter erwirtschaftet hatten, verspielten diese Landherren in Baden-Baden in wenigen Nächten. Die gräfliche Kartoffelschnapsbrennerei, die unter den Hammer zu kommen drohte, wollte Samuel dem Solkowsky allerdings nicht abkaufen. Er riet auch allen anderen Juden dringend davon ab. »Soll es wieder heißen, dass die Juden die Bauern zum Trinken verführen, um sie in den Ruin zu treiben?« Alles, was die Neigung zu Pogromen förderte, hatte tunlichst zu unterbleiben. Am Frieden muss man unablässig arbeiten wie in einem Weinberg, das war seine feste Überzeugung. Viele Juden meinten allerdings, dass richtige Pogrome in Preußen inzwischen völlig undenkbar wären. »Man hat schon Pferde vor Apotheken kotzen sehen!«, warnte Samuel diese eingefleischten Optimisten. »Ein Jude ohne Wachsamkeit ist ein toter Jude!« Die letzten Übergriffe gegen Juden vor ein paar Jahren in Preußen waren ihm Warnung genug gewesen. »Nein, diese Deutschen haben harte Herzen, in denen steckt ein kalter Hass, der mit trügerischem Biedersinn Frieden verspricht.« Er jedenfalls ließ sich davon nicht täuschen!

      Da waren ihm die Polen schon lieber. Anders als die Pogrome in Russland, die neben Raub Mord und Totschlag bedeuteten, glichen die Ausbrüche der Polen gegen die Juden seinem Empfinden nach eher den Tobsuchtsanfällen eines geplagten Ehemannes, der in regelmäßigen Abständen sein Weib durchprügelt, wenn er ausreichend unglücklich ist und genug Schwarzgebrannten intus hat. Danach tat’s ihm dann leid, und man war sich wieder gut. Für eine Weile. So war es hier doch immer! Damit kannte man sich aus. Samuel Kohanim traute ja noch nicht einmal dem russischen Deutschen von nebenan, den er für die Schnapsbrennerei nach Osche geholt hatte. »Der Kerl hat das Gemüt eines Krokodils«, lästerte er im vertrauten Kreis über seinen neuen Nachbarn, den Zucker- und Schnapsbaron von Steinfeld. Über Izrael Poznansky, den größten Tuchfabrikanten in Lodz, einen frommen Juden, der selbst in seinen Tuchwebereien Gebetsräume für seine jüdischen Fabrikarbeiter einrichten ließ, hatte Samuel seinerzeit erfahren, dass ein gewisser Baron von Steinfeld an einer Schnapsbrennerei und ähnlichen Unternehmen »weiter westlich« interessiert war. Er wollte dringend vom russisch-polnischen Lodz ins Preußische wechseln. Obwohl die von Steinfelds vom Zaren geadelte deutsch-russische Kaufleute waren und märchenhafte Liegenschaften in Russland besitzen sollten, hielten sie es seit längerem für opportun, sich weiter westlich zu etablieren, angeblich des milderen Klimas wegen.

      Es musste so um die Weihnachtszeit gewesen sein, als der Kohanim dem alten Solkowsky den Handel vorschlug, denn in der Schlosshalle stand noch die große Weihnachtstanne, die die Grafen wie immer patriotisch mit weiß-roten Seidenpapierfähnchen geschmückt hatten, »solange Polen in Knechtschaft lebt«.

      »Kaufadel!«, höhnte Graf Solkowsky über den »von« Steinfeld. Wahrer Adel zählte für ihn erst von sieben edlen Ahnen abwärts. Mindestens! Dass man das Adelspatent mal vom polnischen König, mal vom russischen Zaren und nach 1806 vom preußischen König gegen das Versprechen von Treue und Wohlverhalten erwarb, war der Lauf der Welt. Doch keine Kreatur unter der Sonne schien dem alten Grafen Zygmund Solkowsky so verächtlich wie ein snobistischer Emporkömmling, der sich einen Titel kauft und zu diesem Zweck sogar noch seinen Glauben verleugnet, als Protestant zum russisch-orthodoxen Glauben konvertiert und dann wieder retour, wie es so passt. »Ehrloses deutsches Pack, ohne Mut, Charakter und Rückgrat, jedem zu Diensten, der es einschüchtert oder mit der Wurst winkt!«

      Darum glaubte der polnische Graf auch keinen Moment daran, dass die sogenannten »von« Steinfelds nur wegen der milderen Winter nach Westpreußen kamen. Nein, »der Sogenannte«, wie die Solkowskys den deutsch-russischen Kaufbaron tauften, wollte seine Schäfchen ins Trockne bringen. »In Russland wird es bald drunter und drüber gehen«, verriet er Samuel, der im Geiste gleich wieder Zehntausende von Juden auf der Flucht nach Preußen sah und sich und die alteingesessenen Juden deshalb in zunehmenden Schwierigkeiten. Amüsiert weidete sich der polnische Graf am Schrecken »seines Juden«. Der Kohanim war zwar schon lange nicht mehr der gräfliche Verwalter, aber geleitet von dumpfer, generationenlanger Gewohnheit nahm


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