Drachensonne. Thomas Strehl
suchen, wenn nein, müsste er sich wenigstens nicht vorwerfen, er hätte nicht alles versucht.
Er packte eine weitere Hose und ein Hemd in die Tasche, die einzigen Kleidungsstücke, die er außer denen, die er am Körper trug, überhaupt besaß. Dann legte er seine Decke obenauf und verschnürte alles gründlich.
Jetzt brauchte er nur noch ein paar Lebensmittel aus dem Vorratsschrank, dann hatte er alles zusammen.
Dann würde er das Dorf verlassen und das ungeschehen machen, was er mit verursacht hatte.
Ohne die Erlaubnis der Alten, wenn es denn sein musste.
Er schlich los, die Tasche geschultert, und schlüpfte geräuschlos durch den Vorhang in das zweite Zimmer.
Jonaas musste so leise wie möglich sein, denn seine Mutter schlief in einer Nische neben dem Feuer.
Sein Blick fiel auf das Bündel unter der Decke, und seine Miene verfinsterte sich.
Es war nicht richtig zu gehen, ohne sich von Fay zu verabschieden, schließlich war es eine Reise, von der er vielleicht nicht zurückkehrte. Und doch konnte er sich nicht vorstellen, dass seine Mutter seinen Plan gutheißen würde.
Nicht weil sie es ihm nicht zutraute oder weil der Rat es verboten hatte, nein, einfach aus Angst und Sorge, ihn zu verlieren.
Er öffnete vorsichtig den Schrank und steckte ein paar Früchte, Brot und etwas Dörrfleisch in die Tasche.
Gerade wollte er nach einem Wasserschlauch greifen, als er eine Bewegung hinter sich wahrnahm.
Langsam und mit klopfendem Herzen drehte er sich um.
»Du brauchst nicht so leise zu sein«, sagte seine Mutter. »Ich bin wach und habe die ganze Zeit auf dich gewartet.«
Er stand ihr sprachlos gegenüber, unfähig, etwas zu sagen, rechnete mit Vorwürfen und Drohungen, doch seine Mutter ging stattdessen zu ihrem Bett zurück und holte ein Bündel darunter hervor.
»Dein Vater möchte, dass ich dir das hier gebe, wenn du ein Mann bist«, sagte sie.
»Mein Vater?« Jonaas hatte mit allem gerechnet, nur damit nicht. »Aber ...«
»Kein Aber«, unterbrach ihn seine Mutter. »Wenn du jetzt damit kommst, dass du die Prüfung nicht bestanden hast, dann vergiss es. Ein Mann zeichnet sich nicht dadurch aus, dass er irgendwelche Aufgaben besteht. Ein Mann ist ein Mann, wenn er bereit ist, für andere Verantwortung zu übernehmen. Und du willst unserem Dorf helfen, oder etwa nicht?«
Sie wartete keine Antwort ab, sondern ging zum Tisch und schnürte das Bündel auf.
»Es ist schon komisch«, murmelte sie dabei. »An dem Tag, als dein Vater unser Dorf verließ, ahnte ich nicht einmal, dass ich ein Kind in mir trug. Erst als er mir diese Sachen mit den Worten gab: Gib das unserem Sohn, wenn er alt genug dafür ist, spürte ich dich in mir.«
Jonaas trat unruhig von einem Bein auf das andere. Gerade hatte er noch vorgehabt, sich klammheimlich davonzustehlen, und jetzt stand er hier, und seine Mutter erzählte ihm Geschichten über seinen Vater.
Er dachte nach. Eigentlich hatte Fay nie mehr als zwei, vielleicht drei Sätze über seinen Vater verloren. Alles, was er von seinem Erzeuger wusste, war, dass man ihn verletzt im Wald gefunden hatte und dass er von einem Stamm und aus einem Dorf kam, von dem selbst die wenigen weitgereisten Sangapao noch nie etwas gehört hatten.
Auch der Rest des Dorfes schwieg seinen Vater weitestgehend tot, und so war Jonaas' Wissen über ihn arg begrenzt.
Und nun packte seine Mutter vor seinen Augen sein Erbe aus. Sachen, die einst seinem Vater gehört hatten.
Fay kam näher und reichte ihrem Sohn zwei olivgrüne, lederartige Stücke, die mit Runen besetzt waren, deren Bedeutung Jonaas nicht verstand. Er nahm die Dinge in die Hand und betrachtete sie. Lederbänder waren hindurch gezogen, und man schien sie schnüren zu können.
»Das sind Armmanschetten«, erklärte seine Mutter. »Komm, leg sie an.« Sie streifte ihm die Dinger über die Unterarme und verschnürte sie.
»Dies sind die Zeichen deines Vaters«, sagte seine Mutter, deutete auf die Runen und trat einige Schritte zurück.
»Du bist ihm so ähnlich«, flüsterte sie, und Tränen traten in ihre Augen.
Sie schniefte einmal, fand ihre Haltung wieder und ging zurück zum Tisch.
Jonaas sah an sich herab und betrachtete die Manschetten an seinen Armen. Irgendwie fühlten sie sich merkwürdig an, vielleicht auch nur, weil seine Mutter sie ein Stückchen zu eng geschnürt hatte.
Trotzdem sagte er nichts. Er wusste, wie viel dies hier seiner Mutter bedeutete. Wie sehr sie an den einzigen Erinnerungsstücken hängen musste, die sie von ihrer großen Liebe übrig behalten hatte.
Jonaas versuchte, sich in seine Mutter hineinzuversetzen, doch er empfand nichts für die Person, die er gar nicht kannte. Sein Vater und alle Gedanken an ihn waren weiter weg als die Sturmfelsen.
Seine Mutter unterbrach seine Gedanken, als sie ihm eine kleine Holzkiste, groß wie seine Hand, reichte.
Jonaas nahm sie an sich, befühlte das weiche Holz und fand schließlich einen metallenen Verschluss. Langsam öffnete er den Deckel.
Eine kleine Steinschleuder befand sich darin, eingeschlagen in blauen Samt, und daneben ein Säckchen, das nach genauerer Untersuchung zwanzig bunte Glasperlen enthielt.
Der Junge wusste nicht recht, was er davon halten sollte, doch seine Mutter sagte: »Nimm das Kästchen mit auf deine Reise. Es wird dir gute Dienste leisten, denn es ist eine mächtige Waffe.« Sie zuckte die Achseln. »Das jedenfalls hat dein Vater gesagt.«
Der Blonde verstaute das Kästchen in seiner Tasche und fragte sich einmal mehr, was für ein komischer Kauz sein Vater wohl gewesen war.
Er trug Manschetten mit wirren Zeichen darauf und war bewaffnet mit der Schleuder eines kleinen Jungen. Ein Kämpfer, der seine Gegner mit bunten Glaskugeln beschoss.
Wieder trat seine Mutter zum Tisch und reichte Jonaas das letzte Geschenk. Es war eine dunkelrote Scheide aus demselben lederartigen Material wie die Manschetten. Doch statt eines Messers oder Dolches steckte eine unterarmlange gläserne Flöte darin.
Sie war daumendick, mit Löchern, wie sie das Instrument von Harin, dem Schäfer, hatte.
Der Junge nahm das Spielzeug entgegen und befestigte es an seinem Gürtel.
Er hätte sich ein Schwert gewünscht für seine Reise oder einen Bogen, doch als er in das feierliche Gesicht seiner Mutter sah, traute er sich nicht, die Geschenke zurückzuweisen.
Er behielt die Stücke und bedankte sich dafür.
»Du bist ihm so ähnlich«, sagte sie wieder, und diesmal ließ sie ihren Tränen freien Lauf.
Jonaas umarmte die zierliche Frau. »Dein Vater sagte: Sie werden ihm auf seiner Suche gute Dienste erweisen.« Sie löste sich aus seiner Umklammerung und trocknete mit ihrem Ärmel die Tränen. »Damals, als du noch nicht einmal geboren warst, wusste ich nichts mit diesen Worten anzufangen«, sagte sie und lächelte schief. »Auch später, als du wohlbehütet aufgewachsen bist, ergaben sie keinen Sinn. Bis jetzt ...«
Jonaas runzelte die Stirn. »Aber wie konnte er damals ...«
Ein inneres Strahlen schien von seiner Mutter auszugehen. »Glaub mir, mein Junge«, unterbrach sie ihn geheimnisvoll. »Dein Vater wusste von Dingen zwischen Himmel und Erde, die andere nicht einmal ahnten.«
Jonaas' Griff klammerte sich um die seltsame Flöte. Sie war durchsichtig, einfach, aber makellos gearbeitet.
»Wie war mein Vater?«, fragte er. Es war nicht das erste Mal, dass er nach seinem Erzeuger fragte, doch anders als bei den vorangegangenen Malen hoffte er diesmal, eine Antwort zu erhalten.
»Es ist schwer, ihn zu beschreiben«, sagte seine Mutter leise. »Geheimnisvoll war er, sehr verwirrend und