Drachensonne. Thomas Strehl

Drachensonne - Thomas Strehl


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Spur zu brutal, aber immer gerecht.« Sie sah ihren Sohn an. »Ich glaube, niemand im Dorf, mich eingeschlossen, hat ihn ganz verstanden. Und nicht wenige waren froh, als er seine Verletzungen auskuriert hatte und ging.«

      »Und du?«

      »Ich war einfach nur wütend«, sagte sie. »Eine Wut, die noch gesteigert wurde, als er mir in seinen Abschiedsworten erklärte, dass ich ein Kind erwartete.« Sie blickte zu Boden. »Es hat Jahre gebraucht, ihm ganz zu verzeihen.« Sie trat zu ihrem Jungen und wischte ihm zärtlich eine blonde Strähne aus seinem Gesicht. »Nun habe ich meinen Frieden mit ihm gemacht und bin ihm dankbar, dass er mir das geschenkt hat, was mir das Wichtigste auf Erden ist: dich.«

      Wieder weinte sie.

      Jonaas, dem es nie erlaubt war, über seinen Vater zu sprechen, wollte nun mehr wissen.

      »Woher stammten seine Verletzungen?«, fragte er. »Woher kam er und wohin ging er?«

      Ein Wissensdurst, der die ganzen Jahre nicht hatte gestillt werden dürfen, sprudelte nun hervor.

      Doch er sollte nicht mehr erfahren. Seine Mutter zuckte nur die Achseln. »Ich weiß es nicht«, murmelte sie. »Selbst mir hat er seine Herkunft verschwiegen. Und niemand kannte jemanden, der so war wie er.« Sie senkte die Stimme. »Fraam behauptete einmal, als er zu viel getrunken hatte, dein Vater käme aus der Geisterwelt«, und dann fügte sie unsicher hinzu: »Aber das ist natürlich Unsinn.«

      Jonaas machte sich seine eigenen Gedanken.

      Sein Vater hatte, als er ins Dorf kam, die Sangapao nicht verstanden, und sie verstanden ihn nicht, also hatten sie ihn Thime getauft, was in der Sangapaosprache soviel bedeutet wie »der Weiße». Und Thime hatte sich auch dann nicht gegen diese Anrede gewehrt, als er in erstaunlich kurzer Zeit ihre Sprache gelernt hatte.

      Eigentlich war er nur schnell aufgetaucht, hatte das friedliche Leben der Sangapao für ein paar Wochen durcheinandergebracht und war dann genauso schnell wieder verschwunden.

      Jonaas war sehr nachdenklich. Es war schon seltsam, den eigenen Vater nur aus Erzählungen zu kennen und zu erfahren, dass selbst die eigene Mutter den richtigen Namen seines Vaters nicht kannte.

      Nun stand er hier in der kleinen Hütte, das Erbe seines Vaters in den Händen, und wusste nicht recht, wie er reagieren sollte.

      Es hatte eine Flucht werden sollen, ein heimlicher Aufbruch, doch nun war alles ganz anders.

      Seine Mutter stand vor ihm, Tränen in den Augen, und er fragte sich, ob er jetzt überhaupt gehen konnte.

      Oder ob er überhaupt noch gehen wollte. War der anfängliche Zorn darüber, dass man ihn hier eingesperrt und nicht mitgenommen hatte, nicht schon verraucht?

      War es nicht wirklich besser zu bleiben?

      Was konnte ein Junge wie er überhaupt ausrichten?

      Und hatte er nicht bereits schon einmal gegen den schwarzen Lord gekämpft und war sang- und klanglos untergegangen?

      Seine Mutter nahm ihm die Entscheidung ab.

      »Dein Vater hätte genauso gehandelt wie du«, sagte sie. »Erfülle deine Pflicht und hole das Feuer zurück.« Sie drückte ihn an sich. »Dein Vater wäre stolz auf dich«, flüsterte sie.

      Dann reichte sie dem verdutzten jungen Mann den Wasserschlauch und die Tasche.

      »Ich lenke die Wachen ab, und du kannst Haus und Dorf verlassen«, hauchte sie.

      Noch einmal drückte sie ihn. »Sei wachsam und passe auf dich auf«, sagte sie zum Abschied und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. »Ich weiß, du wirst uns nicht enttäuschen.«

      Dann schlüpfte sie, ohne ein Wort ihres Sohnes abzuwarten, aus der Hütte.

      Jonaas blieb, den Kopf voll wirrer Gedanken, ein Bündel mit Erinnerungen an seinen unbekannten Vater tragend, im Dunkel zurück und wartete ab, was als Nächstes geschah.

Kapitel 5

      Es dauerte nur einige Minuten, bis Jonaas an der Ostseite des Dorfes laute Rufe vernahm.

      Er warf einen vorsichtigen Blick aus dem Fenster und sah Fackeln durch die Nacht zucken.

      Alles, was Beine hatte und zur Wache eingeteilt war, lief in die Richtung, aus welcher der Lärm kam.

      Der Mann, der eigentlich vor ihrer Hütte hätte stehen sollen, war ebenfalls nirgendwo zu sehen.

      Toll, dachte Jonaas. Und mir macht man Vorwürfe, ich hätte meine Wachen nicht ernst genug genommen.

      Was, wenn im Osten nur ein Ablenkungsmanöver stattfand und der eigentliche Angriff aus einer ganz anderen Richtung kam?

      Die friedliche Dorfbevölkerung war mit der neuen Situation völlig überfordert. Nur gut, dass es keinen richtigen Angriff gab und nur seine Mutter irgendwie dieses heillose Durcheinander angerichtet hatte.

      Er wusste nicht, wie sie es geschafft hatte, ahnte aber, dass es ihr kein zweites Mal gelingen würde.

      Er musste die Chance nutzen, die sie ihm eröffnet hatte. Musste jetzt reagieren, in der kurzen Zeit, die ihm blieb.

      Jonaas öffnete vorsichtig die Tür, streckte den Kopf heraus und sondierte die Gegend.

      In seiner unmittelbaren Umgebung waren keine Fackelträger zu sehen.

      Alles war dunkel und ruhig.

      Die Rufe und die Aufregung waren einige hundert Meter entfernt.

      Der Junge sprang aus dem Haus und sprintete, jede Deckung nutzend, die sich ihm bot, zu den Stallungen.

      Jetzt, da er sowieso flüchtete, würde es auch nichts mehr ausmachen, wenn er sich ein Pferd ausborgte.

      Seine Mutter und er hatten kein eigenes Tier, trotzdem war Jonaas ein ausgezeichneter Reiter. Schon oft hatte er draußen bei der Feldarbeit, beim Pflügen geholfen und fühlte sich im Sattel eines Pferdes wohl und sicher.

      Er wusste auch schon genau, welches Tier er nehmen würde, die Fuchsstute des Schmieds würde ihm mit ihrem ruhigen, sicheren Tritt die Reise sehr erleichtern.

      Jonaas bog um die Ecke der Schmiede, hinter der die Stallungen für alle Reittiere der Gemeinschaft lagen, und stoppte abrupt seinen Lauf.

      Im letzten Moment sah er die Gestalten, und er schaffte es gerade noch, sich in den Schatten der Wand zu ducken.

      Der Junge fluchte leise. Ausgerechnet die Wachen vor dem Stalltor hatten ihre Position nicht aufgegeben. Sie saßen mit überkreuzten Beinen vor der großen Tür, der eine rechts, der andere links, unterhielten sich leise und verfolgten neugierig das Geschehen um sich herum.

      Für einen winzigen Augenblick überlegte Jonaas, ob er die beiden irgendwie weglocken konnte, doch er verwarf den Gedanken sofort, als er die Gesichter der beiden erkannte.

      Es waren Telfte, der Schmied, und Zack, der Gehilfe des Rinderhirten Brom. Beide groß und kräftig, und Jonaas musste erkennen, dass er sich den Pferdediebstahl abschminken konnte.

      Die Gefahr war zu groß, entdeckt und gefangen genommen zu werden, und noch einmal würden sie es ihm nicht gestatten, ihrer Obhut zu entkommen.

      Nein, er musste aus dem Dorf verschwinden, denn eine zweite Chance zur Flucht würde es nicht geben.

      Wenn er wirklich die Gemeinschaft verlassen wollte, um den Schwarzen und das Feuer auf eigene Faust zu suchen, dann musste das jetzt geschehen.

      Auch wenn die Flucht und die anschließende Verfolgung ohne ein passendes Reittier schier aussichtslos werden würde.

      Jonaas wandte sich ab und lief in entgegengesetzter Richtung an den Häusern vorbei. Hier und da wurde in den Räumlichkeiten eine Fackel entzündet, denn die Rufe der Wachen hatten einige Dorfbewohner geweckt.

      Der Junge duckte sich in den Schatten, hastete von Hütte zu Hütte, flankte dann über den niedrigen Bretterzaun, der die Weiden eingrenzte, und lief an


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