Drachensonne. Thomas Strehl

Drachensonne - Thomas Strehl


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geworden, Sterne erstrahlten und erhellten das seltsame Ereignis mit milchigem Glanz.

      Der Junge saß still da, ließ das Instrument sinken, nahm jedoch den Blick nicht von ihm.

      Wie war das möglich?

      Warum um alles in der Welt konnte er plötzlich Flöte spielen?

      Oder war es so, wie er es während des Musizierens gespürt hatte? Spielte die Flöte mit ihm? Hatte sie ihm das Lied entlockt und nicht andersherum?

      Sekundenlang verharrte der Wald in ehrfürchtigem Schweigen, dann nahm der erste Vogel seinen Gesang wieder auf, und die anderen folgten.

      Lauter als zuvor, so, als wollten sie der Flöte zeigen, dass sie ebenbürtige Musiker waren.

      Plötzlich raschelte das Gebüsch hinter Jonaas, und der Junge wirbelte herum.

      Wieder hatte er seine Umgebung nicht im Auge behalten, abgelenkt vom Spiel.

      Wieder wäre es ein Leichtes gewesen, ihn zu überrumpeln.

      Doch es war kein Angreifer, der aus dem Gebüsch auf den schmalen Weg trat.

      Es war ein Hirsch, der sein gewaltiges Geweih durch das Unterholz schob, nur um gleich darauf in voller Größe im Mondlicht dazustehen.

      Das Tier war riesig, deutlich größer als das größte Pferd, das Jonaas je gesehen hatte, und sein Fell war weiß wie Schnee.

      Dunkelbraune, gutmütige Augen betrachteten den Jungen aufmerksam, dann trat der Hirsch noch einen Schritt näher an Jonaas heran und verbeugte sich leicht.

      »Es ist lange her, dass der Ruf uns ereilte«, sagte das Tier mit tiefer, melodischer Stimme und kam noch einen Schritt weiter auf Jonaas zu. »Und ich kam, so schnell es eben ging.«

      Der Junge konnte seine Überraschung über den sprechenden Hirsch kaum verbergen. Noch seltsamer jedoch war, dass das Tier mit dem riesigen Geweih ihm überhaupt keine Angst einjagte.

      Im Gegenteil: Er hatte das Gefühl, dass er dem Wesen bedingungslos vertrauen konnte.

      Trotzdem verwirrten ihn das Erscheinen und die Worte des Hirsches.

      Was meinte er mit dem Ruf?

      Jonaas, der bisher nur die plappernden Zanthen als sprechende Tiere kannte, war klar, dass der Hirsch nicht aus der Gegend der Sangapao kommen konnte. Denn dann hätten die Jäger ihn sicherlich schon einmal gesehen und von der mächtigen Erscheinung berichtet.

      »Wer bist du? Woher kommst du?«, fragte der Junge, als er sich einigermaßen gefasst hatte.

      Der Hirsch schnaubte. »Du willst ein Araun sein und kennst Gwayhier nicht?«, stieß das Tier leicht verärgert hervor. »Erst rufst du mich, und nun fragst du, wer ich bin und woher ich komme. Wahrlich, du bist ein seltsamer Geselle.«

      Jonaas verstand überhaupt nichts mehr.

      Er hatte den Hirsch gerufen? Und was zum Kuckuck war ein Araun?

      »Ich bin Jonaas«, sagte der Junge. Er wollte seiner Stimme einen festen Klang geben, doch irgendwie war er ein wenig eingeschüchtert. »Und ich bin kein Araun, was immer das sein mag, sondern ein Sangapao.« Er stotterte fast vor Aufregung. »Und wie kann ich dich rufen, wenn ich nicht einmal deinen Namen kenne?«

      Der Hirsch verzog seine Schnauze und zeigte die Zähne.

      Fast wirkte es wie ein Lächeln.

      »Du kannst mich nicht veralbern«, sagte das Tier, und seine Augen umspielte ein schelmischer Zug. »Ein Sangapao sieht ganz anders aus. Du bist zweifelsohne ein Araun.«

      Er deutete auf die Flöte. »Außerdem spielen nur Araun dieses Instrument, und nur ein Araun kann Gwayhier rufen.«

      »Aber ...« Jonaas ging einige Schritte rückwärts, dann setzte er sich wieder auf den Baumstumpf. In seinem Kopf kreisten wilde Gedanken.

      »Was kann ich für dich tun?«, fragte der Hirsch, und als der Junge nicht direkt antwortete, sammelte das Tier etwas Moos vom Boden auf und begann, genüsslich zu äsen.

      Und während der Hirsch seinem kargen Mahl nachging, zählte Jonaas eins und eins zusammen.

      In den letzten Jahren, als das Dorf ihn zu akzeptieren gelernt hatte, hatte er fast vergessen, dass er kein Sangapao war oder besser gesagt nicht wie einer aussah.

      Er überlegte. Einen Araun hatte der Hirsch ihn genannt.

      War sein Vater ein Araun gewesen?

      Und das Flötenspiel? Hatte er nicht vielleicht wirklich unbewusst eine Botschaft versandt? Brauchte er nicht Hilfe? Oder zumindest, er sah den gewaltigen Hirsch an, ein Reittier?

      Jonaas schaffte ein Lächeln.

      »Ich verfolge jemanden«, begann er. »Vielleicht kannst du wirklich etwas für mich tun.«

      Das Tier hielt beim Kauen inne und beäugte den Jungen.

      »Ich muss schneller vorwärtskommen«, sagte Jonaas. »Ich brauche ein Reittier.«

      Gwayhier spuckte das Moos aus, sprang ein paar Schritte zurück und verzog das Gesicht.

      »Ein Reittier!«, schrie er. »Du brauchst Gwayhier als Reittier!«

      Er sprang auf und ab, war gar nicht mehr zu beruhigen.

      »Warum rufst du kein Pferd?«, funkelte er den Jungen böse an. »Oder besser einen Esel.« Er warf den Kopf in den Nacken, und das Geweih funkelte im Mondlicht. »Ein Reittier, oh, noch nie hat mich ein Araun so beleidigt.«

      Jonaas wurde es zu bunt. »Ich bin kein Araun, verdammt. Und ich weiß nicht, wer du bist und um was man dich normalerweise bittet.«

      Er wurde leiser. »Ich weiß nur, dass ich Hilfe brauche.«

      Der Junge war verzweifelt, und der Hirsch bemerkte das und hörte sofort auf zu toben.

      »Du kennst mich wirklich nicht«, sagte er fassungslos. »Du treibst gar keine Spielchen mit mir.«

      Jonaas antwortete nicht, schlug nur die Hände vors Gesicht und schluchzte.

      Das weiße Tier trat langsam näher und stupste den Jungen mit der Schnauze an der Schulter an.

      »Verzeih«, sagte er ruhig. »Wir waren lange nicht mehr in Karma'neah. Mir scheint, hier hat sich einiges verändert.«

      Der Junge sah das Tier durch die Finger hindurch an.

      »Und wenn du partout kein Araun sein willst, dann eben nicht.«

      Der Hirsch ging in die Knie und legte sich neben den sitzenden Jungen. Sein Kopf befand sich nun in Augenhöhe, und Gwayhier sah Jonaas voller Mitleid an.

      Sofort spürte der Junge ein Gefühl der Wärme und des Friedens.

      »Was bedrückt dich?«, fragte der weiße Hirsch. »Erzähl mir davon.«

      Und Jonaas begann.

      Er erzählte von seinem Leben bei den Sangapao, von der Prüfung und ihrem unrühmlichen Ausgang. So gut es ging, versuchte er, sich an die Einzelheiten in der Höhle zu erinnern, denn der Hirsch wollte alles über den Angreifer wissen.

      Dann berichtete er darüber, wie es ihm im Dorf ergangen war, von seinem Arrest und wie es ihm gelungen war, mit Hilfe seiner Mutter zu fliehen.

      Am meisten jedoch interessierte das Tier die Geschichte seines Vaters und die Abschiedsgeschenke, die seine Mutter dem Jungen gegeben hatte.

      Er betrachtete aufmerksam die Flöte, die Armstulpen und die Waffe mit den geheimnisvollen Glaskugeln.

      Als Jonaas geendet hatte, sagte der weiße Hirsch lange Zeit nichts. Er betrachtete still und nachdenklich den Wald. Der Junge wollte schon fragen, ob alles in Ordnung war, da nickte das große Tier mit dem Kopf.

      »Dann ist es also wahr«, sagte er leise. »Dann hat sich die Prophezeiung der Alten erfüllt.«

      Jonaas


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