Drachensonne. Thomas Strehl

Drachensonne - Thomas Strehl


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doch dachte Jonaas gerade deswegen oft an ihn, und er wusste, dass es vielen anderen genauso erging.

      Eigentlich hieß der Goon Mykiel und war ein Junge wie jeder andere. Und obwohl er drei Jahre älter als Jonaas und seine Freunde war, hatten sie als Kinder viel Zeit miteinander verbracht.

      Dann, im jugendlichen Alter, hatte Mykiel angefangen, sich zu verändern. Erst wurde er ruhig und verschlossen, beinahe grüblerisch, dann brach es immer öfter aus ihm heraus.

      Sein Kopf war voller Ideen und Visionen, und er mischte sich oft in die Gespräche der Männer ein und wollte Dinge grundlegend ändern.

      Erst ignorierte man ihn, dann, als Mykiel immer aufdringlicher und ungeduldiger wurde, wurden die Männer böse, und manchmal hagelte es Schläge für das aufmüpfige Kind.

      Doch Mykiel wurde nicht ruhiger. Zu viele Ideen durchflogen seinen Kopf, schossen hin und her wie Schwalben an einem Sommertag.

      Seine Mutter und sein Vater versuchten, ihn zu bremsen, vertrösteten ihn auf den Tag, wenn er ein Mann wurde, um endlich gehört zu werden, doch Mykiel wollte keine weiteren dreihundert Tage warten. Stattdessen beschloss er, dass das Bewahren der Flamme reiner Unsinn war, erklärte sich selbst zum Mann und verkündete, nicht an der Prüfung teilzunehmen.

      Doch damit brachte er die Ältesten des Dorfes gegen sich auf.

      Für kleinere Vergehen untereinander gab es drei Richter, aber ein Nichtteilnehmen an der Prüfung, ein Verschmähen der heiligen Aufgabe, das war ein Verbrechen an der Gemeinschaft. Und dafür kannte das Dorf nur eine Strafe.

      Mykiel wurde ein Goon. Er verlor seinen Namen, seine Rechte, seine Habe und seinen Platz im Dorf.

      Jemand, der die Flamme nicht bewahren wollte, war kein Sangapao und hatte sein Leben verwirkt.

      Nur mit einer Hose bekleidet, ohne Waffen und Nahrung, brachten ihn Reiter unter lautem Wehklagen seiner Familie aus dem Dorf und schleppten ihn an einen weit entfernten Platz.

      Mit der Drohung, dass man ihn sofort töten würde, wenn er ins Dorf zurückkehrte.

      Von nun an war er ein Ausgestoßener, ein Goon, ohne Stamm, Familie und Zuhause.

      Jonaas dachte an den Tag zurück, als die Reiter den zappelnden fluchenden Burschen aus dem Dorf gebracht hatten.

      Es schauderte ihn. Nie würde er diesen Moment vergessen, den Moment, der ihm klar gemacht hatte, dass die Gemeinschaft alles und man ohne ihren Schutz nackt und verloren war.

      Es war das einzige Mal seit über hundert Jahren, dass die härteste aller Strafen verhängt wurde, und da auch die Jäger, welche die umliegenden Wälder durchstreiften, den Goon nie wiedersahen, war jedem klar, das Mykiel umgekommen war.

      Und nun meinte Tyk, dieser Mykiel hätte richtig gehandelt?

      »Das meinst du nicht ernst«, sagte Jonaas. »Du weißt so gut wie ich, dass der Goon ein kleines bisschen verrückt war.«

      »Ach ja?« Tyk streckte herausfordernd den Kopf vor. »Ich fand nicht alles dumm, was er sagte.«

      Kalil starrte auf seine Füße. Man merkte deutlich, dass ihm die Diskussion unangenehm war.

      Von allen dreien war er derjenige, der am stärksten an den Traditionen der Sangapao festhielt.

      »Vielleicht hatte er wirklich die eine oder andere gute Idee«, versuchte er trotzdem zu beschwichtigen. »Aber sein Verhalten war dumm. Niemand kann ohne die Gemeinschaft überleben, und diesen Schutz darf man nicht leichtfertig aufs Spiel setzten.« Er sah Tyk fest an. »Ganz egal, was man manchmal denkt oder fühlt.«

      Die Freunde schwiegen. Tyk sammelte kleine Steine vom Boden auf und warf sie gegen die Wand. Das Klicken, das entstand, war lange Zeit das einzige Geräusch.

      »Du hast es richtig gemacht, Tyk«, sagte Jonaas in die Stille. »Du hast als Jugendlicher nicht gegen deinen Vater aufbegehrt, sondern mit uns zusammen die Prüfung abgelegt. Wenn du die Höhle verlässt, bist du ein Mann, und dein Vater und die Ältesten müssen dir zuhören und deine Meinung akzeptieren.« Er versuchte ein aufmunterndes Lächeln. »Vielleicht schaffst du es ja doch noch, da raus zu kommen.«

      Tyk hielt in der Bewegung inne. Er ließ die Steine aus seiner Hand auf den Boden rieseln und nickte Jonaas zu.

      »Hoffen wir es«, brummte er.

      Wieder entstand eine kurze Zeit der Stille, und obwohl Tyk diesmal keine Steinchen warf, drang ein Scharren und Klappern an ihre Ohren.

      Nie zuvor in den dreihundert Tagen hatten sie solche Geräusche vernommen.

      »Habt ihr das auch gehört?«, flüsterte Kalil und sprang auf.

      Das Geräusch war für einige Sekunden verschwunden, und die Freunde lauschten angestrengt. Schon glaubten sie, ihre Sinne hätten ihnen einen Streich gespielt, als das Scharren erneut an ihre Ohren drang, diesmal lauter und näher.

      »Die kommen uns schon heute holen«, sagte Kalil und fuhr sich durchs Haar. »Jungs, wir haben uns verzählt. Die Strichliste stimmt nicht, einer von uns hat Mist gebaut, und heute ist nicht Tag zweihundertneunundneunzig, sondern schon dreihundert.« Er warf sich die Decke von der Schulter und wollte dem Geräusch entgegen gehen, doch erstens konnte man nicht genau lokalisieren, woher das Scharren kam, und zweitens wurde er von Tyk aufgehalten.

      »Warte«, flüsterte er. »Ich bin sicher, dass wir uns nicht vertan haben. Wir werden erst morgen geholt. Glaub mir.«

      Doch Kalil ließ sich nicht beirren. »Und wer oder was soll dann hierher kommen?«, fragte er.

      Seine Mitwachen antworteten nicht. Sie wussten genauso gut wie Kalil, dass ein Felsen vor den Höhleneingang gerollt wurde, sobald neue Wachen den Berg betreten hatten. Ein Felsen, der nur von zehn Mann bewegt werden konnte.

      Und sonst gab es in diesem Höhlenlabyrinth nichts. Kein Tier trieb hier sein Unwesen. Kein Bär, kein Olano, nicht einmal eine Maus wohnte in der Nähe der Flamme. Es war nicht nur so, dass Jonaas und die anderen in den Tagen zuvor kein Lebewesen gesehen hatten, nein, sie wussten auch von den anderen Wachen aus den Jahren zuvor, dass die Hüter der Flamme ihren Dienst ganz allein versehen mussten. Hier unten gab es wirklich nichts. Die einzigen lebenden Organismen in dieser Höhle waren sie.

      Das jedenfalls hatten sie bis vor einem Augenblick gedacht.

      Und nun dies.

      Unzweifelhaft ging oder schlurfte jemand über den Felsboden, und der Unbekannte machte sich nicht einmal die Mühe, besonders leise dabei zu sein.

      Jonaas und Tyk hatten sich ebenfalls erhoben, und Rücken an Rücken warteten die Freunde ab.

      Das Geräusch verstummte ab und zu für wenige Momente, so, als orientiere man sich, dann war es wieder für kurze Zeit zu hören, jedes Mal näher als zuvor.

      Jonaas spitzte die Ohren, doch es war unmöglich, die Richtung zu bestimmen, aus der das Scharren kam.

      Das Geräusch war nicht besonders laut, trotzdem hallte es von den Wänden wider.

      »Was zum Henker ist das?«, sprach Kalil die Gedanken aller aus.

      Jonaas antwortete nicht, und am unsicheren Blick Tyks konnte er erkennen, dass auch der schweigsame Junge keine Erklärung für das Scharren hatte.

      »Vielleicht will uns jemand einen Streich spielen?«, flüsterte er. »Oder das gehört mit zur Prüfung, und man will uns testen, ob wir die Flamme im Ernstfall wirklich verteidigen.« Seine Stimme zitterte leicht, und Jonaas bemerkte verwirrt, dass Tyk sein Jagdmesser aus dem Gürtel zog.

      »Hallo!« Kalils Stimme klang in der Stille ohrenbetäubend laut. Wie von selbst hatten sie sich in den Tagen der Höhle angewöhnt, leise zu sprechen. Da keine Nebengeräusche ihre Stimmen störten, hatte meist ein Flüstern gereicht.

      Nun jedoch rief Kalil laut, und die Echos tobten durch den Raum. »Wenn das ein Scherz sein soll, dann könnt ihr jetzt damit aufhören. Wir haben genug gelacht.«

      Jonaas


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