Das Traummosaik. Paul Walz

Das Traummosaik - Paul Walz


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Begrüßungsfloskeln und ein paar höflichen Fragen nach seiner Gesundheit war das Gespräch schließlich verebbt. Inzwischen saßen sie schon seit Längerem in einer Stille, die langsam so dicht wurde, dass Finkler fast glaubte, sie mit den Händen greifen zu können. Bisher war es ihm nicht gelungen, die Frage zu stellen, wegen der er hier war. Wie sollte er es anstellen, ohne dass es grob klingen würde? Ihm fiel nichts ein, also ging er es frontal an. Anschließend würde er sich mit Anstand schnellstens verdrücken.

      »Im Präsidium fehlen Teile der Akten. Wir fragen uns, ob Achim noch ein paar Unterlagen zu Hause hatte.«

      Ihr Kopf zuckte herum. »Bist du deswegen gekommen?« Enttäuschung lag in ihrem Ton.

      »Nein«, beschwichtigte er, »ich dachte nur …«

      »Er hat den Dreck immer im Präsidium gelassen und nie etwas mit hierhergebracht.« Sie sah ihn abschätzig an. »Es gehörte nicht in sein Leben, das er neben dem Beruf hatte. Vielleicht handhabst du das anders, doch er hat das strikt getrennt.« Sie betonte das »du«.

      »Also ist nichts hier?«

      »Nein, natürlich nicht«, blaffte sie.

      Finkler sah, dass sie ihrer aufsteigenden Wut gerne mit einer größeren Tirade Luft gemacht hätte. Doch sie zögerte und plötzlich blitzten ihre Augen.

      »Weißt du, was ich mich immerzu frage?« Ihre Stimme war hart und schneidend. »Warum er dich zu retten versucht hat. Weißt du, Sebastian, Achim hielt dich für einen guten Polizisten, einen sehr guten sogar. Doch menschlich bist du ihm immer fremd geblieben, oft warst du ihm sogar zuwider. In seinen Augen warst du total verbohrt. Alles hast du dem Job unterworfen, gnadenlos.«

      Er hielt ihrem Blick stand.

      »Immer hat er hinter dir aufgeräumt, wenn du in deiner Rücksichtslosigkeit wieder einmal durch das Präsidium gepflügt bist. Achim mochten sie in der Abteilung, dich nicht. Fragst du dich manchmal, warum niemand zu dir ins Krankenhaus gekommen ist?«

      Finkler senkte den Blick.

      »Nie hast du ihm gedankt oder auch nur gezeigt, dass du merkst, was er für dich tut. Ich frage mich also, was ihn angetrieben hat, dich zu retten und«, ihre Stimme drohte zu ersticken, »uns zurückzulassen. Weißt du, was ich abends schreie, wenn die Kinder im Bett sind und ich nicht schlafen kann? Was ich Achim zurufe, wo immer er jetzt ist? Ich schreie: Warum hast du ihn nicht verrecken lassen und bist abends zu uns zum Essen gekommen?«

      Sie war laut geworden und fing an zu weinen.

      Finkler hatte keine Antwort darauf. Was sie sagte, stimmte. Güdner gegenüber hatte er sich immer wie ein Arschloch verhalten. Und nicht nur Güdner gegenüber. Seine Wangen brannten.

      Sonja drehte sich weg und schaute ihren Kindern weiter beim Spielen zu.

      »Ich will, dass du nie wieder herkommst.«

      Wortlos stand Finkler auf und verließ das Haus.

      8

      Donnerstag, 17. November

      Den gesamten Mittwochabend war Finkler in einer Migräne versunken, wie er sie noch nicht erlebt hatte. Zwar hatte er mit einer körperlichen Reaktion auf den Stress der vergangenen Tage gerechnet, doch die Heftigkeit der Attacke erschreckte ihn. Der Schmerz zwang ihn sofort ins Bett. Ihm blieb nichts übrig, als im abgedunkelten Raum zu liegen, zu warten, bis die Medikamente wirkten, und zu versuchen, Entspannung zu finden. Irgendwann kam Melanie. Sie schlüpfte zu ihm ins Bett und legte beruhigend ihren Arm um seine Schultern. Er schmiegte sich an sie und genoss ihre Nähe.

      Erst am Donnerstagmorgen ließ ihn die Migräne langsam los und zog wie ein hartnäckiger Sturm Zug um Zug ab. Zurück blieb der typische Migränekater.

      Er schlurfte in die Küche und machte Frühstück, während Melanie unter der Dusche war. Die erste Tasse Kaffee trank er im Stehen, dann setzte er sich und las die Zeitung, in der eine kurze Nachricht über die Tote erschienen war. Wenige Worte nur, unten in der Ecke.

      Melanie kam im vollen Ornat der Abteilungsleiterin herein. Kostüm, aufwendiges Make-up und eine breite Aktentasche. Sie sah auf die Uhr.

      »Ich bin spät.«

      Er goss ihr Kaffee ein. Schwarz, wie immer.

      »Setz dich wenigstens für fünf Minuten.«

      Widerstrebend nahm sie Platz und schmierte sich eine halbe Scheibe Brot. Immer auf der Hut vor zu viel Kalorien. Finkler grinste. Er konnte essen, was er wollte, so dürr, wie er war.

      »Willst du heute Abend mit mir ausgehen?«

      »Traust du dir das zu?«

      »Ich habe doch jetzt Zeit. Club Rose?«, schob Finkler nach.

      Sie lachte auf. »Du willst in den Club Rose?«

      »Ich ziehe mir auch was Schönes an. Heute Abend? Zehn Uhr?«

      Ein kurzes Zögern und ein fragender Blick. »Okay. Zehn Uhr bei mir!«

      Als sie gegangen war, duschte er lange, spülte Schweiß und Erschöpfung fort und ließ seine Gedanken treiben. Danach ging es ihm besser und er machte sich wieder auf die Suche nach den verschwundenen Akten. Er hatte zwar keine große Hoffnung, sie bei sich zu Hause zu finden, aber einen Versuch war es wert.

      In einer kleinen Kammer bewahrte er alle privaten Unterlagen auf, die er in ordentlich beschriftete Ordner geheftet hatte. Steuererklärungen, Versicherungen, Rechnungen. In einem Karton fand er seine Fotos. Eine der Aufnahmen zeigte seinen Vater in Uniform, wie er dem Polizeipräsidenten bei einer öffentlichen Belobigung die Hand schüttelte. Auf einem anderen war sein Vater breit lächelnd mit einem ihm unbekannten Mann zu sehen, der seinen Arm freundschaftlich um seine Schulter gelegt hatte. Das letzte Foto war auf seiner Beerdigung aufgenommen worden: Hunderte von Polizisten säumten das Grab. Er war ein beliebter und guter Polizist gewesen. »Im Einsatz für Recht und Ordnung gestorben«, so hatte es in den Zeitungen gestanden. Aber eigentlich war es bloß ein Verkehrsunfall mit dem Dienstwagen gewesen, sinnlos.

      Wenn man genau hinschaute, konnte man am Grab inmitten der uniformierten Armee einen kleinen Jungen auf dem Arm einer Frau erkennen. Der Knirps war er, Finkler junior. Früher, in Momenten großer Sehnsucht, hatte er sich oft vorgestellt, dass die Frau auf dem Bild seine Mutter wäre. Doch das stimmte nicht, die Frau war eine Mitarbeiterin des Jugendamts.

      Er legte die Fotos zurück in den Karton. Die Postkarten darin beachtete er nicht. Es waren Karten seiner Mutter aus Amerika, belanglos und ohne eine Erklärung, warum sie gegangen war, noch bevor er zwei Jahre alt war. Stattdessen durchforstete er den Rest der Wohnung, ohne etwas Brauchbares zu finden. Danach waren Computer und Speichermedien dran – auch hier kein Erfolg.

      Er ging in die Küche, setzte sich an den Tisch und trank ein Glas Wasser. Der einzige neue Anhaltspunkt blieb der Zettel, aus dessen Inhalt er weiterhin nicht schlau wurde. Mit wem war er damals verabredet gewesen?

      11.05.

      23:00 Uhr – Club Rose

      FN wird dort sein

      FN. Das konnte alles und nichts bedeuten. Er googelte das Akronym und erhielt mehr als zweihundert Millionen Treffer. Sinnlos. Vielleicht würde ja der Abend etwas bringen. Ihm war klar, dass nur der Zufall ihm helfen konnte. Doch was hatte sein Ziehvater immer gesagt: Der Zufall ist der einzig legitime Herrscher des Universums.

      ***

      Das rechtsmedizinische Institut befand sich in einem villenähnlichen Gebäude auf dem Gelände der Universitätsklinik. Finkler nahm den Weg nach unten in die Untersuchungsräume. Es roch nach Formaldehyd und Reinigungsmitteln. Als er Dr. Brückner an seinem Schreibtisch sitzen sah, atmete er auf. Zum Glück war keine Obduktion im Gange.

      »Ach, Finkler, was treibt Sie denn hierher?«

      Er zeigte ihm das Foto des Untersuchungsberichts. »Sie haben hier auf den Rand geschrieben, dass Sie wegen der Kleidung davon ausgehen, die Leiche stamme aus den achtziger Jahren.«

      Der


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