Das Tartarus-Projekt. Gerd Schilddorfer
einen kleinen Augenblick, ich schaue, ob Herr Zahlmann noch kurz Zeit hat.“
Hat er sicher, dachte Landorff. Vielleicht hatte Melissa ja recht. Die Franzosenmasche zog. Er sollte sich schnellstens einen passenden Akzent antrainieren.
„Monsieur de Gilles, wie schön, dass Sie sich hier heraus bemüht haben!“ Julius Zahlmann, seine Hand weit ausgestreckt, sah irgendwie bedrückt aus, als er Landorff begrüßte und in sein Büro bat. „Ich habe gehört, Sie waren gestern auf der großen Party von Gregory Winter?“
„Ja, war ich und ich nehme an, Sie haben auch bereits erfahren, was geschehen ist.“ Landorff versank geradezu im ledernen Besuchersofa, dessen Geruch bei ihm Erinnerungen an Voltigieren und Pferdestriegeln in Kindheitstagen weckte.
Zahlmann nickte betrübt. „Die Polizei war bereits vor Stunden da und hat mich befragt. Aber wir haben nur das Buffet geliefert und meine Angestellten sind danach wieder gegangen. Zu viel Arbeit, Sie wissen ja, und Gregory, ich meine Herr Winter, wollte keinen Koch am Buffet. Was allerdings mit ihm passiert ist … furchtbar!“
Landorff wartete nur darauf, dass er sagte: „Zum Glück war das Buffet bereits bezahlt.“
„Die Polizei, dieser Kroning, war auch schon bei mir und meiner Agentin“, erzählte er ihm. „Die arbeiten die Gästeliste ab, von Z nach A.“
Zahlmann nickte geistesabwesend. „Hätten Sie eventuell noch eine Kopie für mich?“, erkundigte sich Landorff wie nebenbei. „Ich habe so viele bekannte Gesichter gesehen, konnte sie aber nicht zuordnen. Sie verstehen, als Franzose …“
„Aber selbstverständlich, ich habe sowieso zwei Kopien machen lassen und eine habe ich bereits diesem Kommissar mitgegeben.“ Zahlmann kramte auf seinem Schreibtisch. Landorff wurde klar, woher Kroning so rasch eine Gästeliste hatte. Der Profiringer war sofort zu Zahlmann gegangen, weil der das Buffet ausgerichtet hatte. Nicht dumm, dachte Landorff, man durfte Kroning nicht unterschätzen.
Die Liste, die ihm der Seniorchef kurz darauf in die Hand drückte, umfasste drei Schreibmaschinenseiten. „Ich brauche sie nicht mehr, Sie können sie gern behalten.“ Er fuhr sich nervös durch die Haare und schaute immer wieder aufs Telefon.
„Ihren Sohn habe ich gestern auch auf der Party gesehen oder habe ich mich getäuscht?“
„Ja, er war auch da und ich mache mir ein wenig Sorgen, wenn ich ehrlich bin“, gab Zahlmann zu und ließ sich auf das Sofa neben Landorff fallen. „Kevin ist sonst nicht so …“
Der Junior heißt Kevin! Landorff grinste innerlich. Shaneya und Kevin würden es nicht immer leicht haben, dachte er schadenfroh. Und Kevin Zahlmann war auch nicht besser als Michael Landorff, wenn es um das Cover ging.
„Nicht so … wie meinen Sie das?“
„Nun, er ist verlässlich und meldet sich, wenn er nicht nach Hause kommt“, erklärte Zahlmann leise.
„Das heißt, er ist nach der Party nicht mehr aufgetaucht? Haben Sie es auf seinem Handy versucht?“
„Ist ausgeschaltet, ich lande immer wieder auf der Mailbox.“ Der Seniorchef trommelte mit den Fingern nervös auf die Lehne des Sofas.
„Haben Sie das Kommissar Kroning erzählt?“
„Ich habe ihm nur gesagt, dass mein Sohn unterwegs ist und sich bei ihm melden wird.“
„Verstehe“, murmelte Landorff und war für einen Moment versucht, Vater Zahlmann darüber zu informieren, dass sein Sohn gestern mit drei halb nackten Grazien aus einem von Winters Badezimmern gestolpert war und seine Hose nicht finden konnte. Dann wäre der Traum vom Aufarbeiten seiner Postings in Form eines Buchs rasch ausgeträumt. Weil Papa Zahlmann wahrscheinlich schnellstens den Geldhahn zudrehen würde und der Filius Hausarrest in der Weißwurstproduktion mit anschließender Sicherheitsverwahrung in der Buletten-Dreherei ausfassen würde. Man kannte sich im großen Dorf München schon immer und Skandale waren nicht gut fürs Geschäft. Schon gar nicht in den oberen Kreisen der potenziellen Kundschaft.
„Könnte er bei einem Freund gestrandet sein?“, gab Landorff stattdessen zu bedenken. „Es gab gestern jede Menge Alkohol und so ein Absturz …“
„Ich habe bei den beiden, die infrage kommen könnten, schon nachgefragt. Nichts. Er war bei keinem von ihnen.“ Zahlmann Senior klang bedrückt und sah immer wieder nervös auf die Uhr.
„Meine französischen Leser interessiert der Mordfall Winter sicherlich brennend, deshalb werde ich dranbleiben“, versprach Landorff ihm. „Was immer ich herausfinde, ich werde mich melden und es Sie wissen lassen. Und was das Buffet betrifft – mein nächstes wird sicher eines von Zahlmann. Ganz bestimmt.“
Zahlmann lächelte geschmeichelt, aber etwas zerstreut und schaute erneut demonstrativ auf die Uhr. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, Monsieur de Gilles, ich habe noch einen Termin. Melden Sie sich?“
„Sobald ich etwas Handfestes erfahren habe“, versicherte ihm Landorff und verabschiedete sich.
Auf dem Weg zum Ausgang fiel ihm im Gang ein Foto auf, das so ganz anders als alle anderen hier war. Das gerahmte Schwarz-Weiß-Bild zeigte einen Mann in einem altmodischen Tropenanzug, mit einer Schaufel in der Hand, der konzentriert in die Ferne blickte. Kurz geschnittenes hellblondes Haar, drahtig, eine Falkennase zwischen zwei stechenden Augen, kantiges Kinn. Zu seinen Füßen stand eine dunkle Kiste, auf der eine Karte lag, mit Steinen beschwert. Im Hintergrund waren Bauten zu sehen, die ein wenig an Pagoden oder exotische Wohnhäuser erinnerten.
Landorff blickte sich um, aber es war niemand zu sehen, der seine Fragen beantworten konnte. Die Türen der nebenliegenden Büros waren bereits verschlossen. So nahm er sein Handy und machte zwei Aufnahmen von dem Foto.
Dann machte er sich auf den Weg nach Hause.
Mit einem kleinen Umweg …
Der Abend war warm und die Biergärten überfüllt. So war auch im Augustiner Biergarten der Insel Mühle nicht einmal mit engen Beziehungen zum Wirt ein freier Tisch zu bekommen. Also setze sich Landorff zu einem Ehepaar, das in eine hitzige Diskussion vertieft war und sein „Ist da noch ein Platz frei?“ mit einer zustimmenden Handbewegung wie nebenbei abhandelte.
Während er auf sein Essen wartete, schaute er sich erneut das Bild an, das er im Treppenhaus Zahlmanns fotografiert hatte. Nach einigem Zoomen und Verschieben fielen Landorff einige Besonderheiten der Aufnahme auf, die wohl aus den 1930er- oder 1940er-Jahren stammen musste. Eine seltsame Zahnung am Rand, tiefe Kratzer an der Oberfläche und ein fehlendes Eck rechts oben. Außerdem war sie bereits einmal in der Mitte gefaltet und danach wieder glatt gestrichen worden. Am linken unteren Rand waren die dünnen Pinselstriche einer Retusche zu erkennen.
Warum hatte Zahlmann ausgerechnet dieses Foto zwischen all die anderen Prominenten gehängt? Würde der Mann in Tropenanzug heute noch leben, dann wäre er zu alt und zahnlos, um sich noch durch eines von Zahlmanns Buffets zu essen, überlegte Landorff. Ein Foto seines Vaters auf irgendeiner Expedition? Der helle Tropenanzug war sicherlich keine Uniform. Aber warum hätte Zahlmann dann nicht nur ein übliches Porträt des Vorfahren an die Wand gehängt? Aufgenommen von einem Star-Fotografen seiner Zeit? Geschniegelt und gestriegelt, mit blütenweißem Hemd und Konfirmationsanzug?
Irgendetwas war seltsam an dem Foto, dachte Landorff. Doch da kam die Kellnerin und es gab Wichtigeres zu tun: Der Schweinsbraten war angekommen.
Das Foto konnte warten.
Fast zwei Stunden später sperrte Landorff seine Wohnungstür auf und freute sich aufs Bett. Nur das Blinken seines Anrufbeantworters hielt ihn noch auf und so drückte er den unvermeidlichen Knopf. Der erste Anruf in der Liste war von seinem früheren Agenten, der ihm erklärte, warum sich niemand für sein geplantes nächstes Buch erwärmen konnte. Gleichzeitig verabschiedete er sich auf einen ausgedehnten Urlaub in die Champagne. Für einen Moment erwog Landorff, ihn zurückzurufen und ihm alles Schlechte zu wünschen. Der zweite Anruf war seltsam. Niemand sprach, nur Hintergrundgeräusche waren zu hören. Es klang wie eine Menschenmenge in einer Bahnhofshalle, allerdings waren keinerlei Durchsagen