Das Tartarus-Projekt. Gerd Schilddorfer
hat Ihnen einen Google-Kalender eingerichtet, auf den wir Zugriff haben“, griff Petra den roten Faden auf. „Wir tragen alle Termine ein, die wichtigsten Daten übermitteln wir Ihnen gesondert. Hier ist meine private Telefonnummer, rufen Sie mich an, wenn Sie dazu Fragen haben.“ Sie schob ihre Visitenkarte über den Tisch.
„Am besten, du schaust jeden Abend in den Kalender und gehst die Termine für den kommenden Tag durch“, meinte Melissa spitz. „Lesungen gibt es bis auf Weiteres keine, du hast ja nichts zu lesen …“
Landorff war knapp dran, einen empörten Zwischenruf loszuwerden, aber dann bremste er sich ein. Naja, Michel de Gilles hatte in der Tat noch nichts anzubieten, zumindest nicht auf Deutsch.
„Die ersten Talkshows habe ich auch schon angedacht“, warf Karim ein, „wenn nicht gerade Terroralarm herrscht, die mittelamerikanischen Flüchtlinge einen Grenzzaun eintreten, die Balkanroute zur Autobahn ausgebaut wird oder irgendein Promi seine Frau geohrfeigt hat, dann bekommen wir Sie aufs Sofa bei der Maischberger oder der Will.“
„Ich habe auch mit Wieland Backes gesprochen“, legte Petra nach. „Sie kennen sicher die Sendung ‚Ich trage einen großen Namen‘. Ist zwar Vorabendprogramm, aber …“ Sie verstummte etwas verunsichert.
„Ich trage aber keinen großen Namen, den hast du dir vor einigen Stunden aus den Fingern gesogen“, erinnerte Landorff Melissa.
„Jetzt sei nicht kleinlich, das ist der Mädchenname deiner Mutter, den du nach dem frühen und schmerzlichen Tod deines Vaters angenommen hast“, korrigierte ihn Melissa unerbittlich. „Beide waren übrigens in der Résistance. Seither wirst du nicht mehr immer auf deinen berühmten Namen angesprochen.“
„Hat mich Napoleon irgendwann adoptiert?“, ätzte Landorff kopfschüttelnd.
„Das war jetzt nicht sehr kooperativ“, gab seine Agentin kühl zurück. „Du sollst der Presse geben, was sie verlangt, aber sie nicht verscheißern. Karim?“
„Ich habe ein wenig recherchiert, vor allem die Familiengeschichten von französischen Literaten und Malern, Dichtern und Großindustriellen, das kommt immer am besten“, zählte Karim auf und tippte mit verblüffender Schnelligkeit auf der Tastatur des Laptops. „Am besten geeignet ist Émile Zola, der berühmte Schriftsteller. Er hatte mehrere Verhältnisse, unter anderem mit Straßenmädchen, war verheiratet, starb unter ungeklärten Umständen.“ Er blickte begeistert auf und strahlte mich an. „Émile Zola war ihr Urgroßvater.“
Landorff war diesmal ehrlich verblüfft und starrte Karim entgeistert an. „Dass ich darauf nicht schon früher gekommen bin! Und was antworte ich auf die berühmte Frage: ‚Glauben Sie, Ihrem Vorfahren ähnlich zu sehen?‘“
„Da wird dir schon etwas einfallen“, mischte sich Melissa ein. „Schau dir Fotos von Zola an und entscheide selbst. Du siehst ihm gar nicht so unähnlich … Wir müssen nur die Frisur etwas ändern.“
Bevor Landorff darauf geistreich antworten konnte, klopfte es an der Tür und das Mädchen vom Empfang schlüpfte in den Sitzungssaal, beugte sich zu Melissa und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Die runzelte die Stirn und nickte. Dann sagte sie laut: „Petra und Karim, ihr könnt kurz eine Pause machen. Ich rufe euch später.“
Kaum hatten die beiden den Raum verlassen, schob sich ein Preisringer in einem knapp sitzenden Anzug durch die Tür, musterte kurz den Saal, die Aussicht und Landorff, bevor er sich neben Melissa aufbaute und einen Ausweis auf den Tisch legte.
„Frau Melissa Warttemberg? Mein Name ist Kroning, Kommissar Kroning. Danke, dass Sie gleich Zeit für mich gefunden haben. Ich untersuche einen Todesfall, zu dem sie mir vielleicht etwas mehr sagen könnten.“ Neugierig blickte er erneut zu Landorff. „Sie waren doch gestern auf der Party von Gregory Winter?“
Melissa nickte gedankenverloren und musterte Kroning von Kopf bis Fuß.
„Sollten wir vielleicht in Ihr Büro gehen?“, meinte der, doch Melissa winkte ab. „Herr Landorff war ebenfalls als Gast bei der Party, also können wir genauso gut hier reden.“
Party? Todesfall? Landorff war etwas verwirrt.
„Ahh, das trifft sich gut“, freute sich Kommissar Kroning und nickte ihm mit einem dünnen Lächeln zu. „Können Sie mir Ihre Eindrücke schildern, damit ich …?“
„Wer ist der Tote?“, unterbrach Landorff ihn. „Sie haben vorhin etwas von einem Todesfall gesagt, und da Sie hier sind, ist es wohl kein natürlicher. Also – wer?“
„Der Gastgeber“, antwortete Kroning einsilbig.
„Gregory Winter?“, fragte Landorff ungläubig und schob den Ausweis des Kommissars mit spitzen Fingern von sich. „Als ich gegangen bin, da war er noch munter und lustig und cool drauf.“
„Wann war das ungefähr?“, wollte Kroning wissen.
„Das kann ich Ihnen, was mich betrifft, ganz genau sagen“, erwiderte Melissa geschockt. „Ich wollte nach einem kurzen Gespräch mit dem Innensenator über die bevorstehende Imagekampagne Münchens so schnell wie möglich verschwinden. Als ich meinen Mantel aus der improvisierten Garderobe im Obergeschoss geholt habe, stand plötzlich Gregory vor mir und bot mir an, mich nach Hause zu bringen. Da war es knapp vor Mitternacht, die Party noch in vollem Gang, aber ich hatte den Eindruck, Gregory brauchte ein paar Minuten Ruhe vom allgemeinen Trubel.“
„Und, hat er Sie nach Hause gebracht?“ Kommissar Kroning zog einen Notizblock hervor. Fehlt nur noch ein Bleistift, den er anleckt, bevor er zu schreiben beginnt, dachte Landorff.
Melissa nickte. „Sein Bentley parkte in der Einfahrt und wir standen kaum zehn Minuten später vor meiner Tür. Nach einem kurzen Abschied fuhr Gregory wieder los. Er erzählte mir noch, dass er in den nächsten Tagen nach Indien fliegen wollte. Das war alles.“
„Wollte er noch jemanden besuchen oder direkt wieder zurück zur Party?“, erkundigte sich Kroning.
„Keine Ahnung“, meinte Melissa ratlos und fixierte Landorff. „Hast du ihn danach nochmal gesehen? Wie lange warst du eigentlich auf der Party?“
„Offenbar länger als du“, gab Landorff zu, „ich wusste nicht, dass du schon vor Mitternacht das Feld geräumt hast. Da habe ich noch im Obergeschoss nach einer freien Toilette gesucht.“
Der Kommissar betrachtete Landorff wie ein aufgespießtes Insekt. „Woher wissen Sie das so genau?“
„Weil irgendeine Uhr im oberen Stock zwölf Mal geschlagen hat, so ein altmodischer Westminster-Gong“, erinnerte sich Landorff. „Das übertönte sogar das laute Stöhnen, das aus dem Bad kam. Die waren zu viert da drin …“
In Kronings Augen leuchtete Interesse auf.
„Wieso ich das weiß?“, kommt ihm Landorff zuvor. „Weil ich auf meinem Rückweg von der Kindertoilette wieder am Bad vorbeigekommen bin und die Akteure gerade die geflieste Bühne verließen. Drei halb nackte Mädchen und ein etwas zerfleddert aussehender junger Mann ohne Hosen.“ Er sah Melissa in die Augen. „Zahlmann.“
„Schau an …“, murmelte sie verwundert. „Vielleicht sollte ich den Junior doch unter Vertrag nehmen …“
„Wie lange sind Sie noch auf der Party geblieben? Haben Sie Winter noch gesehen, bevor Sie gegangen sind?“
„Es wird so gegen drei Uhr morgens gewesen sein“, kramte Landorff in seinen etwas verschwommenen Erinnerungen. „Die Talisker-Storm-Flasche war leer und die Reihen der Wissenschaftler hatten sich auch bereits weitgehend gelichtet. Denen waren wahrscheinlich die Krankheiten ausgegangen. Also brach ich ebenfalls auf. Teilte mir das Taxi mit jemandem, der in die gleiche Richtung fuhr; keine Ahnung, wer das war. Winter verabschiedete mich nicht, der hatte alle Hände voll zu tun und versuchte zwei Mädchen in Unterwäsche davon abzuhalten, in den Pool zu springen. Er hielt eines von ihnen am Slip fest, doch der gab nach und das Letzte, was ich hörte, war ein lautes Platschen. Dann saß ich auch schon im Taxi.“
„Und da war es gegen drei Uhr morgens?“,