Brandsätze (eBook). Steph Cha
Selbstbestrafung auf einem Schrein der Schuld dargebrachten Opfergabe.
Paul begann zu essen. Grace verspürte keinen Hunger, tat es ihm aber pflichtbewusst nach. Yvonne rührte sich nicht. Ihre Hände lagen in ihrem Schoß, ihr Blick war abwesend.
»Yeobo«, sagte Paul und ließ die Stäbchen sinken. »Iss. Es schmeckt gut.«
Aus Pauls Mund kam das einem sanften, großzügigen Zugeständnis gleich. Diese offene Anerkennung ihrer Bedürftigkeit war fast schmerzhaft.
Sie aßen. Yvonne stocherte trübselig in der von ihr zubereiteten Mahlzeit herum. Es schmeckte wie immer großartig, aber alle waren sich der Situation und ihrer Gefühle so bewusst, dass die Küche sich feucht und stickig anfühlte und die Suppe einen ranzigen, schweißigen Geruch annahm, der Grace den Appetit raubte.
Das Schweigen wurde unerträglich, und Grace war dankbar, als Paul den Fernseher anstellte, auf dem einer der beiden koreanischen Sender lief. Grace hatte versucht, ihren Eltern Netflix nahezubringen. Sie hatte dafür sogar einen Smart-TV gekauft und den alten Flimmerkasten ersetzt, der sie seit ihrer Kindheit begleitet hatte und den niemand haben wollte, nicht einmal, als sie ihn auf Craigslist zum Verschenken anbot. Aber ihre Eltern fanden, dass sie zu alt für so etwas waren. Yvonne schaute sich ihre paar Lieblingsserien zur regulären Sendezeit an, und wenn sie mal eine Folge verpasste, lieh sie sich in dem koreanischen Videoladen im Hanin Market die DVD.
Jetzt gerade lief ein neues Historiendrama mit einem Schauspieler, den Grace vor Kurzem erst gesehen hatte, als er sich in seine wunderschön an Krebs sterbende Adoptivschwester verliebt hatte. Grace wusste nicht genau, worum es hier gerade ging, aber es schien ihr, als hätten ihre Eltern in den letzten zwanzig Jahren nur Variationen des immer gleichen Palastintrigendramas geschaut. Männer und Frauen in wallendem Hanbok mit weiten Ärmeln und großen Haartrachten, die hinter papierenen Schiebetüren flüsterten. Kämpfende Prinzen, intrigante Konkubinen. Grace mochte koreanische Serien eigentlich, aber die historischen waren schwierig. Dem gehobenen Koreanisch konnte sie nur schwer folgen, außerdem konnte sie nie die Epochen auseinanderhalten. Eine Weile hatte sie eine Serie über Zeitreisen geschaut, aber wie immer das Interesse verloren, sobald Fächer und Pferde auftauchten. Was ging es sie an, was ihre Vorfahren vor Hunderten von Jahren in einem anderen Land getan hatten?
Der König warf eine Teetasse nach einem kauernden Diener, dann kam Werbung. Paul schaltete auf den anderen koreanischen Sender um. Er schaute nie Werbung, und fast hatte man das Gefühl, dass er einen Preis zu gewinnen glaubte, wenn er nur schnell genug den Sender wechselte. Als die melodische Stimme des koreanischen Nachrichtensprechers zu Aufnahmen des in ein Flugzeug steigenden Präsidenten ertönte, schaltete Grace innerlich ab. Sie hätte der Sendung folgen können – wenn sie sich konzentrierte, war ihr Koreanisch gut genug, um alles zu verstehen –, aber es schien ihr die Mühe nicht wert.
Dann erschien das Gesicht von Alfonso Curiel auf dem Bildschirm. Sie erkannte das Foto. Es war nicht das Schulporträt von der Kundgebung, sondern ein anderes, das immer mal wieder gezeigt wurde, auf dem Curiel einen Hoodie trug und mit verschränkten Armen in die Kamera starrte. Sie war immer noch dabei, die Schlagzeile zu entziffern – Koreanisch lesen fiel ihr schwer –, als plötzlich wieder der Sender gewechselt wurde. Werbung für einen koreanischen Haushaltsgeräteladen flimmerte über den Bildschirm und verkündete Sonderpreise für Reiskocher und Waschmaschinen. Grace sah ihre Eltern an. Ihre Gesichter waren angespannt. Reglos. Wachsam.
»Da läuft immer noch Werbung.« Sie nahm ihrem Vater die Fernbedienung ab und schaltete wieder um.
In den Nachrichten wurde ein verwackeltes Video gezeigt, und Grace war sofort klar, was sie da sah: Bodycam-Aufnahmen von Curiels Tod. Er stand da und winkte mit leeren Händen Trevor Warren zu, dann bewegte er langsam eine Hand in Richtung hintere Hosentasche – um seinen Geldbeutel herauszuholen, wie sich später herausgestellt hatte. Der Sprecher beschrieb die Szene in schnellem, ernstem Koreanisch, während dicht hintereinander fünf Schüsse zu hören waren. Eine in Tränen aufgelöste schwarze Frau wurde eingeblendet. »Vergesst seinen Namen nicht«, sagte sie und zeigte in die Kamera. Darunter liefen koreanische Untertitel.
Das Video musste gerade erst veröffentlicht worden sein, aber Grace verstand nicht, weshalb. Wahrscheinlich gab es irgendeine juristische Erklärung, aber der Zeitpunkt der Veröffentlichung war nicht nur konfliktträchtig, sondern auch ausgesprochen dumm. Die Grand Jury hatte erst kürzlich entschieden, die Wunde war noch frisch. Und jetzt gab es den Beweis, dass der Junge nicht bewaffnet gewesen und kaltblütig getötet worden war.
Paul nahm die Fernbedienung und schaltete zurück zu der Serie, aber die Werbung war noch nicht vorbei. Als Grace wieder nach der Fernbedienung greifen wollte, gebot ihr Paul mit einem warnenden Blick Einhalt. Sie sah Yvonne an, die mit gesenktem Kopf dasaß und regelrecht erstarrt war. Es war so jämmerlich, dass Grace wütend wurde. Sie konnten sich nicht mal die Nachrichten ansehen? Nicht mal das ertrugen sie?
Seit Miriam aufgehört hatte, mit Yvonne zu reden, und vielleicht auch schon ein paar Jahre länger, löste jede noch so harmlose Erwähnung von Schwarzen, Ethnien oder Rassismus in der Familie Park große Anspannung aus. Grace fragte sich, ob das in anderen Familien auch so war, ob ihre Freunde und deren Eltern dieses Thema ebenso mieden wie das Sprechen über Sex.
Vor zwei Jahren hatte Miriam einen Mann namens Kenechi mit nach Hause gebracht, einzig und allein – davon war Grace überzeugt –, um ihre Mutter zu ärgern. Er war der perfekte schwarze Testfreund für koreanische Eltern: ein solider Ivy-League-Investmentbanker aus einer Mittelschichts-Einwandererfamilie. Abgesehen davon war er völlig unpassend für Miriam, fast die Karikatur eines spießigen Finanztypen im rosa Polohemd, der ständig die elitäre Wharton Business School erwähnte. Wäre er weiß gewesen, hätte Miriam ihn gehasst, da war sich Grace sicher, doch so stellte sie ihn nach dem dritten Date ihren Eltern vor. Sie hatte sie nicht darauf vorbereitet – Grace vermutete, dass ihre Mutter eigentlich mit einem Japaner gerechnet hatte, was für sie schon schlimm genug gewesen wäre –, und Yvonne benahm sich furchtbar daneben. Die Sprachbarriere hätte hierbei eigentlich sogar von Vorteil sein können, aber Yvonne schaffte es tatsächlich zu fragen, wie viele Eltern er habe, und die offensichtliche Abscheu in ihrem Gesicht konnte man ebenfalls nicht ihrem schlechten Englisch ankreiden. Das einzige Gute an dem unerträglichen Abendessen war seine unerwartet kurze Dauer gewesen. Grace hatte den Typen nur dieses eine Mal gesehen, und es war zugleich das bisher letzte Mal, dass Miriam ihre Eltern sah.
Aber auch wenn der Abend schlimm gewesen war, erklärte er nicht, warum es zu diesem dauerhaften Bruch in der Familie gekommen war. Kenechi war nur eine kurze Affäre. Am Ende fand Miriam heraus, dass er Dutzenden junger asiatischer Frauen auf Instagram folgte, und brach den Kontakt zu ihm ab. Ein paar Wochen später lernte sie Blake online kennen und erwähnte Kenechi nie wieder. Anfangs triezte Grace sie noch mit ihm, um herauszufinden, was passiert war, aber Miriam wurde dann immer schnell sauer und wechselte das Thema.
Nein, es steckte mehr dahinter, etwas Großes, da war sich Grace sicher. Sie spürte es wie eine Glaswand, real und bedrohlich, aber nur unter bestimmten Umständen sichtbar: durch Schmutz oder Fingerabdrücke oder das Aufblitzen einer Lichtreflexion. Alfonso Curiel war ein solches Aufblitzen, das das Glas sichtbar machte, und Grace wollte die Hand ausstrecken und die Scheibe berühren. Sie fühlen, ihren Widerstand spüren und sichergehen, dass sie wirklich da war. Um die Größe und den Umfang abzutasten und dann vielleicht einen Weg zu finden, sie zu entfernen, ohne dass sie zersplitterte.
»Was für eine schreckliche Geschichte«, sagte sie.
Yvonne nahm Pauls dreckigen Teller und stellte ihn auf ihren eigenen, stand auf und begann den Tisch abzuräumen.
»Das ist doch irre, dass sie ihn nicht mal anklagen«, fuhr Grace fort und ließ ihre Mutter nicht aus den Augen. »Ihr habt’s auch gesehen, oder? Er hat ihn kaltblütig erschossen.«
Sie gaben keine Antwort, und Grace fragte sich, ob ihnen für dieses Gespräch überhaupt die richtigen Worte zur Verfügung standen. Sie und ihre Eltern sprachen untereinander eine Mischung aus Englisch und Koreanisch, wechselten mitunter mehrmals in einem einzigen Satz zwischen den Sprachen hin und her, und keiner von ihnen war perfekt zweisprachig. Koreanisch war Graces Muttersprache, die aber schnell