Brandsätze (eBook). Steph Cha

Brandsätze (eBook) - Steph Cha


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hielt sich zurück und machte Fotos mit seinem Handy. Sie würden sie später von ihm haben wollen.

      Ray stellte den Karton ab, nahm seine Tochter fest in die Arme und verbarg sein Gesicht an ihrer Schulter. Shawn sah, dass er die Augen schloss und seine Tränen von dem gelben Stoff des Kleides aufgesogen wurden.

      »Gott sei Dank«, sagte Ray und nickte mit dem Kopf, während er sie weiter umarmte. »Gott sei Dank für diesen Tag.«

      »Hey, Dad«, sagte Darryl mit einem schüchternen kleinen Winken. Er war sechzehn, und Shawn wusste, dass er sich schon sehr männlich vorkam.

      Ray lachte und ließ Dasha los. Er machte das halbherzige Winken seines Sohnes nach und wischte sich mit der anderen Hand die Tränen aus den Augen. »Was war das denn?«, fragte er und öffnete die Arme. »Komm her.«

      Darryl ließ sich von seinem Vater drücken, hielt die Arme aber eng an seinen Körper gepresst. Als Ray ihn nicht losließ, hob der Junge einen Arm und klopfte seinem Vater auf die Schulter, woraufhin Ray ihn nur umso fester umarmte.

      Shawn fiel auf, dass er nicht sagen konnte, wer von den beiden größer war. Darryl war gerade wieder mitten in einem Wachstumsschub, jede Woche wurden seine schmalen Knochen länger. Manchmal überraschte es Shawn, wie schnell die Kinder sich veränderten, dabei sah er sie alle paar Tage.

      »Er ist gefahren«, sagte Nisha strahlend. »Er wollte derjenige sein, der dich abholt.«

      Darryl löste sich aus den Armen seines Vaters und zuckte die Achseln. »Es war gut zum Üben.«

      Ray hielt seinen Sohn immer noch an den Schultern fest und starrte ihn an. »Du kannst Auto fahren?«

      »Ich bekomme nächsten Monat meinen Führerschein.«

      »Wenn du bestehst«, sagte seine Mutter. »Werd mal nicht übermütig.«

      Darryl hatte seinen Probeführerschein für Anfänger im Januar bekommen. Shawn hatte ihm das Fahren beigebracht: Sie waren in Shawns Grand Cherokee durch die Nachbarschaft gecruist und hatten auf der Mall Ring Road ihre Kreise gedreht, damit Darryl bei niedrigem Tempo Fahrpraxis bekam. In den letzten Monaten war er bereits hin und wieder auf dem Freeway gefahren. Die Tour nach Lompoc war seine bisher längste, und der Junge hatte seine Sache gut gemacht. Shawn war stolz auf ihn.

      In vielerlei Hinsicht war er diesen Kindern genauso sehr ein Vater wie Ray. Das war ein Tabuthema, aber er vermutete, dass alle außer Ray es ähnlich sahen. Lompoc lag dreieinhalb Autostunden von Palmdale entfernt. Als die Kinder noch klein waren, hatte Nisha sie so oft wie möglich mitgenommen, aber sie musste auch Geld verdienen, und die Kinder hatten, als sie älter wurden, zunehmend eigene Pläne. Ihr Vater spielte in ihrem Leben eine immer geringere Rolle. Aus dem Gefängnis heraus konnte er ihre Aufmerksamkeit nicht einfordern, und was immer sie an schlechtem Gewissen gehabt haben mochten, verschwand, je länger er weg war. Manchmal hatte Shawn sie mitgenommen und dabei geahnt, dass sie auch nicht öfter zu Besuch kamen als er, also vielleicht drei, vier Mal im Jahr. Ray hatte sie im Zeitraffer aufwachsen sehen.

      Auch Shawn hatte mal im Knast gesessen, konnte sich aber dennoch nicht vorstellen, wie es war, ein ganzes Jahrzehnt zu verlieren, während die Welt sich weiterdrehte. Er war nie in einem Bundesgefängnis gewesen, hatte aber in seiner Jugend immer wieder mal im Central Juvenile und in Twin Towers eingesessen und zum Schluss dann drei Jahre in Lancaster. Damals war sein Leben aus den Fugen geraten. Manchmal war es die Hölle, immer aber ruhelos gewesen, denn der Boden unter seinen Füßen hatte sich nie sicher angefühlt. Bei jeder Entlassung war er aufs Neue orientierungslos gewesen, als würde er aus dem Koma erwachen. Die verlorene Zeit ließ sich nicht nachholen. Er war neidisch gewesen auf die Erlebnisse anderer Leute, die auf entspannte Tage, Freundschaften, Weihnachtsfeiern zurückblicken konnten. Vielleicht war es ein Segen, dass Ray nicht wusste, was er verpasst hatte. Darryls Fußballspiele, seine Begeisterung für Star Wars. Die Aufregung, als Dasha zum ersten Mal ihre Tage bekommen hatte, und die von Tante Sheila zur Feier des Tages gebackenen Red Velvet Cupcakes. Die schwierigen Nächte, in denen Nisha nicht schlafen konnte, in denen sie und Shawn in der Küche saßen und redeten, in denen Angst und Einsamkeit sie zu einer echten Familie zusammenschweißten.

      Ray ließ seinen Sohn los und sah seine Frau an. Shawn fand, dass sie gut aussah. Sie hatte sich frisiert und geschminkt und schick angezogen. Sogar ihren Hochzeitsring hatte sie geputzt, er glänzte wie neu. Nisha war so alt wie Ray, und natürlich war auch sie seit Rays Verhaftung älter geworden, doch heute strahlte sie wie eine Schwangere.

      »Big D, Little D«, sagte Ray, den Blick auf Nisha gerichtet. »Schaut mal kurz weg.«

      Die Kinder sahen weiter ihren Vater an, verdutzt über die Aufforderung und die Spitznamen – soweit Shawn wusste, war sein Neffe noch nie Big D genannt worden. Ray gab ihrer Mutter vor ihren Augen einen langen, leidenschaftlichen Kuss, und Shawn lachte, als aus ihrer Verwirrung mit einem Mal zur Schau gestellter Ekel wurde – aus schierer Freude, ihre Eltern zusammen zu sehen.

      Dann tauchte Ray wieder auf. Sein Arm war um Nishas Hüfte geschlungen. Er machte eine Kopfbewegung in Richtung Gefängnis. »Damit könnte ich da drin noch mal sechs Monate durchhalten.«

      Nisha lachte, und auf ihrem Gesicht glänzten Glückstränen. »Denk nicht mal dran, Ray Holloway.«

      Shawn machte noch mehr Fotos. Zum ersten Mal seit Jahren – seit sie Ray zu seinem vierzigsten Geburtstag gemeinsam in Lompoc besucht hatten – sah er sie alle vier zusammen. Eine schöne Familie. Lächelnd. Komplett.

      »Schaut mal zu mir«, sagte er und hielt das Handy hoch.

      Alle drehten sich um. Ray nickte ihm zu, als würde er ihn jetzt erst wahrnehmen. »Wer hat dich eingeladen?«, fragte er.

      »Ich liebe dich auch«, sagte Shawn und drückte auf den Aus­löser, als Rays Gesicht sich zu einem Grinsen verzog.

      Er hatte überlegt, zu Hause zu bleiben. Jazz, seine Freundin, half Tante Sheila bei den Vorbereitungen fürs Abendessen, und er wusste, dass sie es lieber gesehen hätte, wenn er bei ihr geblieben wäre. Es gab jede Menge zu tun – jedenfalls laut Tante Sheila –, und irgendwer musste auf Monique aufpassen. Jazz’ Tochter war gerade drei geworden und besaß eine Energie und Furchtlosigkeit, die höchste Wachsamkeit erforderte.

      Aber Darryl und Dasha hatten Shawn gebeten mitzukommen, und Nisha hatte eingewandt, er müsse schon mit, weil Darryl unbedingt fahren wollte. Shawn hatte ihr versprechen müssen, dafür zu sorgen, dass ihr Sohn sie auf dem Hinweg nicht alle umbrachte, und dann auf dem Rückweg selbst das Steuer zu übernehmen. Da sie ihn also alle dabeihaben wollten, war er natürlich mitgefahren. Außerdem war Ray für ihn mehr ein Bruder als ein Cousin. Er und Tante Sheila waren die nächsten Blutsverwandten, die ihm geblieben waren.

      Shawn ging zu den anderen und umarmte Ray. Die beiden Männer hielten sich fest, bis sie schnieften und lachten.

      Shawn hob Rays Karton auf. »Auf geht’s, Mann. Nichts wie raus aus Lompoc.«

      Sie quetschten sich in Shawns Jeep. Ray saß auf dem Beifahrersitz, Nisha und die Kinder hinten. Shawn ließ den Wagen an.

      »Ich bin am Verhungern«, sagte Ray, als sie auf dem Freeway waren. »Können wir was zu essen holen?«

      »Hast du nichts zu Mittag gegessen, Daddy?« Dasha steckte den Kopf zwischen den Vordersitzen hindurch.

      »Baby Dash, ich hab in den letzten zehn Jahren nichts Vernünftiges zu essen gehabt.«

      Shawn erinnerte sich nur zu gut an den widerwärtigen Geschmack von Knastfleisch, farblos, gummiartig und faul riechend. Essen hatte für ihn lange Jahre keinen Genuss bedeutet, nur reine Nahrungsaufnahme. Tütenkartoffelbrei und Bohnen aus der Dose. Endlose Scheiben von weißem Toast, die im schlaffen Mund zu Brei wurden.

      »Kannst du noch warten, bis wir zu Hause sind? Mom bereitet ein Festmahl vor«, sagte Nisha. »Im Ernst, sie ist schon seit einer Woche am Kochen.«

      Ray schwieg ein paar Sekunden lang, und Shawn wusste, dass er an einen Cheeseburger mit Speck und Pommes dachte. »Wie lange dauert die Fahrt?«

      »Dreieinhalb Stunden«,


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