Brandsätze (eBook). Steph Cha

Brandsätze (eBook) - Steph Cha


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versucht hatte, von hinten ins Haus zu kommen, und irgendein Nachbar hatte daraufhin die Polizei gerufen.

      Allem Anschein nach war er völlig unschuldig gewesen. Es war so traurig.

      Der Mann ganz vorne redete laut, und trotzdem wurde seine Stimme teilweise vom Stadtlärm verschluckt. Er stand hoch aufgerichtet da, trug einen schwarzen Anzug mit schwarzem Hemd und schwarzer Krawatte. Bestimmt war er Pastor – Grace las ihm die religiöse Autorität an seiner Haltung und am lauten Dröhnen seiner Stimme ab, noch bevor sie ihm richtig zuhörte.

      Sie vernahm den Namen des toten Jungen und beugte sich mit geneigtem Kopf vor, um den Pastor besser verstehen zu können.

      »Er wollte nur nach Hause«, rief er. »In sein eigenes Haus, wo er mit seiner Mutter und seinem Vater lebte. Wenn ihr in Amerika schwarz seid, ist es ganz egal, was ihr tut. Ihr könnt in eurer eigenen Nachbarschaft, eurer eigenen Straße bleiben und trotzdem vor dem eigenen Haus von einem Polizisten erschossen werden. Ihr könnt ein unbewaffneter schwarzer Junge sein und einfach so umgebracht werden, und zwar mit dem Segen des Gesetzes. Und das gilt genauso für Frauen und Mädchen. Denkt an unsere Schwestern. Denkt an Sandra Bland, denkt an Rekia Boyd.«

      Er wandte sich an eine neben ihm stehende ältere Frau und legte ihr seine große Hand auf die Schulter.

      »Denkt an Ava Matthews, hier in L.A.«

      Grace hörte dem Pastor zu, gab sich der Macht seiner Stimme hin. Es gab Gemurmel und Fingerschnippen – das hatte sie noch nie erlebt, verstand aber, dass es sich um ein Amen handelte.

      »Die Mutter von Alfonso Curiel hat gestern Abend ein Interview gegeben. Sie hat ihn als einen guten Jungen beschrieben, der nie Ärger machte. Der gute Noten hatte und Arzt werden wollte. So ein Junge war das – einer, der alles richtig machte. Jetzt ist er im Himmel, da gibt es keinen Zweifel. Aber hier hat er nie die Chance bekommen, seine Träume zu leben. Wieder haben wir einen von uns verloren. Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass ihm Gerechtigkeit widerfährt.«

      Die ältere Frau neben dem Pastor hielt ein selbst gebasteltes Schild aus Pappe und wischte sich mit der freien Hand die Tränen aus den Augen. Grace dachte zunächst, das sei die Mutter, aber dafür war sie mit ihren mindestens sechzig Jahren zu alt. Sie hatte dichte graue Locken und tiefe Falten in den weichen, runden Wangen. Vielleicht die Großmutter. Sie war das Inbild von Traurigkeit, sogar das Schild hing schlaff herunter. Gerechtigkeit für Alfonso Curiel stand darauf über einem Schwarz-Weiß-Foto. Ein hübscher, pausbäckiger Junge in einem Kragenhemd, ernst, aber mit leuchtenden Augen. Ein Schulporträt. Er hätte aufs College gehen sollen. Er hätte Arzt werden sollen.

      Grace wurde schwindelig, und sie schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, lief auch ihr eine Träne über die Wange.

      Ihre Schwester hatte recht. Es war falsch und egoistisch von ihr gewesen, wegzuschauen, wenn es doch so viel Ungerechtigkeit auf der Welt gab. Sie hatte es sich bei Alfonso Curiel zu leicht gemacht, hatte sich den Luxus der Apathie geleistet und ihre Welt von der realen Welt ferngehalten.

      Ihr Herz schwoll an vor Demut und gerechter Leidenschaft. Ein vertrautes Gefühl, das sie aus ihrer Zeit in der Kirche kannte. Das Gefühl christlicher Erweckung. Sie war erfüllt von Liebe, reich und rein und unpersönlich, und hatte so viel davon, dass sie jede gefallene Seele zu erreichen und in die allgemeine Trauer einzustimmen vermochte.

      Sie war so in Gedanken versunken, dass sie Miriam erst bemerkte, als sie mit Blake im Schlepptau neben ihr stand. »Da bist du ja«, flüsterte Miriam ihr ins Ohr, umarmte sie kurz, trat zurück und musterte sie. »Du hast dich hübsch gemacht. Schön.«

      Grace wurde rot. Sie hatte sich für den Abend geschminkt und ordentliche Klamotten angezogen, was nicht oft vorkam, da sie den Großteil ihres Lebens in Laborkittel und orthopädischen Schuhen verbrachte und alte koreanische Patienten versorgte. Jetzt trug sie ein schwarzes, vielleicht etwas zu kurzes Kleid mit Flügelärmeln, das sie unlängst über einer blickdichten Strumpfhose auf der Beerdigung einer alten Halmoni aus der Gemeinde getragen hatte. Beim Durchkramen ihres Kleiderschranks heute Nachmittag war ihr das Kleid als passende Wahl erschienen – seriös genug für eine Gedenkfeier, ausreichend modisch für ein Abendessen –, aber als sie sich jetzt umsah, kam sie sich gleichzeitig altbacken und overdressed vor. Andere waren zwar auch schwarz gekleidet, trugen aber T-Shirts mit Slogans wie I can’t breathe und Black Girl Magic. Sie hatte dezent und respektvoll aussehen wollen, und jetzt wirkte sie wie Wednesday Addams.

      Miriam war wie für ein Musikfestival gekleidet und trug eine Art sexy Kimono aus weiter, geblümter Seide mit luftigen Ärmeln über einem bauchfreien Oberteil und zerrissenen Denim-Shorts. Das Outfit hätte eigentlich auch bei weniger ernsten Anlässen albern gewirkt, aber an Miriam sah es phantastisch aus. Grace hatte ihre Schwester immer um ihren Stil beneidet, den sie nicht einmal dann erfolgreich nachahmen konnte, wenn Miriam ihr Klamotten lieh oder mit ihr einkaufen ging. Hinzu kam, dass Miriam schon immer vier Zentimeter größer und fünf Kilo leichter gewesen war als Grace, woran sich genauso wenig änderte wie an dem Altersunterschied zwischen ihnen. Wenn Grace sich dieses Outfit besorgt und angezogen hätte, hätte sie darin ausgesehen wie eine Haarwäscherin in einem billigen koreanischen Frisiersalon.

      »Die verdammte Nazibande ist auch da«, sagte Blake und nickte in Richtung der bleichgesichtigen Verbindungstypen, die Grace vorhin schon aufgefallen waren.

      »Ignorier sie«, sagte Miriam. »Die warten doch nur darauf, dass jemand sie anmacht.«

      Blake zog ein Gesicht, als wäre er des Feldes verwiesen worden. »Was für Arschlöcher protestieren auf einer Gedenkfeier?«, fragte er laut. Ein paar Leute drehten sich zu ihm um. Er hatte zwar recht, aber solange der Pastor sprach, hielten alle anderen still.

      Blake und Miriam waren jetzt seit fast zwei Jahren ein Paar, und Grace verstand immer noch nicht, was ihre Schwester an ihm fand, außer vielleicht, dass er die Rechnungen bezahlte, während sie sich auf Twitter rumtrieb oder an irgendeinem Drehbuch oder ihrem Roman rumtippte, mit dem sie sich schon ziemlich lange herumschlug. Er galt wahrscheinlich als gut aussehend – er war groß und hatte blaue Augen, das reichte schon –, aber er war fünfzehn Jahre älter als Miriam, hatte eine immer höher werdende Stirn und neigte dazu, Statement-Blazer zu glänzenden Turnschuhen zu tragen. Wenigstens war er erfolgreich: Als Drehbuchautor hatte er eine beliebte Fernsehserie über Drogensüchtige in den Appalachen entwickelt. Grace fand es interessant, dass Miriam auf die Vorherrschaft weißer Männer in Hollywood schimpfte, sich aber in den weißesten Mann verliebt hatte, den Hollywood je gesehen hatte. Sogar Grace fiel auf, wie weiß seine Serie war, dabei bemerkte sie solche Dinge nur sehr selten, wie Miriam immer wieder betonte.

      Er kompensierte auf unerträgliche Weise, erzählte allen, er sei Feminist und praktisch Kommunist, und bat auf Facebook um Empfehlungen für Bücher von Autorinnen of color, als könnten Miriam und Google ihm keine Tipps geben. Einmal hatte Grace mitbekommen, dass er auf Twitter gepostet hatte: »Hört zu, Jungs, Oralsex ist keine Einbahnstraße.« Miriam hatte den Tweet gelikt, aber Grace hätte viel dafür gegeben, ihn aus ihrem Gedächtnis löschen zu können.

      Sie wurde vom aufbrandenden Applaus überrascht. Der Pastor hatte seine Rede gerade erst beendet, aber sie hatte ihm schon minutenlang nicht mehr zugehört.

      »Und jetzt spricht unsere Schwester Sheila Holloway zu uns«, sagte er und legte wieder seine Hand auf die Schulter der älteren Frau.

      Miriam beobachtete die Frau eindringlich und aufmerksam. Grace hörte so lange zu, bis ihre Neugier gestillt war. Die Frau war nicht die Großmutter, sondern ein Gemeindemitglied oder so was, aber sie sprach leiser als der Pastor. Ihre Worte waren über den Lärm der Menge hinweg kaum zu verstehen, und nach einer Minute gab Grace auf. Sie spürte nicht mehr die mitreißende Begeisterung von vorhin und hatte das Gefühl schon fast wieder vergessen. Es war, als würde man wieder einschlafen wollen, um einen vielversprechenden Traum zu Ende zu träumen.

      Das Lokal in Little Tokyo war nicht mal ein richtiges Restaurant, eher eine Bar mit Speisekarte. Alles, was sie bestellten, war niedlich und winzig, wie Spielzeugessen in einem japanischen Geschenke­laden. Grace nippte regelmäßig an ihrem Screwdriver und trank sich unabsichtlich einen Schwips an. Sie trank


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