Brandsätze (eBook). Steph Cha
Duncan schlug Shawn auf die Schulter. »Wie wär’s, wenn du dich mal nützlich machst? Renn hin und sieh nach, was los ist.«
»Ich?« Shawn bekam große Augen, reckte sich dann und war erfreut, sich beweisen zu können. »Klar, kein Problem.«
»Ich komm mit«, sagte Ava und steckte den Walkman in den Rucksack.
»Nee, Ava, schon okay. Bin gleich wieder da.« Er flitzte los, bevor ihm seine Schwester folgen konnte.
Er rannte quer über die Straße und drängte sich mitten in die Menschenmenge hinein, nutzte die immer kleiner werdenden Lücken, bis es keine mehr gab. Gute sechs Meter vom Kassenhaus entfernt kam er nicht weiter. Er steckte fest wie ein Stück Fleisch zwischen den Zähnen. Es war laut, alles um ihn herum dröhnte dumpf. Irgendwer neben ihm stank nach Schweiß, und ihm wurde übel.
Ein Typ links von ihm hielt die Hände vor den Mund und brüllte: »Mann, ich wette, ihr betet, dass wir nie wieder hier in Westwood aufkreuzen.«
Shawn tippte ihm auf die Schulter, und der Typ drehte sich mit bösem Blick zu ihm um. »Was ist da los?«, fragte Shawn.
»Die sagen, sie haben zu viele Karten verkauft, und wir müssen gehen.«
»Und wenn wir schon Karten haben?«
»Ist egal. Die Vorstellung ist abgesagt.« Er erhob wieder die Stimme. »Weil die Schiss vor uns haben. Die sehen zehn Schwarze und glauben, hier kommt die Hood.«
»Wir haben unsere Karten schon. Bezahlt und alles.«
»Ist scheißegal.«
»Aber das ist nicht fair.«
Der Typ lachte. Er war nicht viel älter als Ray und die anderen, aber sein Lachen klang alt und bitter. »Was heißt schon fair? Hast du nicht von Rodney King gehört?«
Shawn nickte, als wüsste er Bescheid. Rodney King – der Name war ihm schon mal begegnet. Ein Schwarzer, der letzte Woche von den Bullen zusammengeschlagen worden war oder so. Tante Sheila hatte gesagt, dass das nicht rechtens war, aber der Typ hätte es besser wissen müssen, als vor den Bullen wegzulaufen, und er wäre gar nicht erst in diese Situation gekommen, wenn er nicht irgendwas auf dem Kerbholz gehabt hätte. Sie und Ava waren darüber beim Abendessen fast in Streit geraten.
»Der Film läuft also nicht?«, fragte Shawn ein letztes Mal.
Er wandte sich um, um zu seinen Leuten zurückzukehren, aber der Weg war versperrt. Er konnte nicht mal erkennen, wo er hinmusste. Wenn er doch bloß größer wäre. Er kam sich wieder wie ein Kind vor, hilflos und ängstlich und kleiner als alle anderen.
Alle redeten gleichzeitig, die Stimmen wurden lauter und lauter, bauschten sich auf und vermischten sich zu einer riesigen Geräuschkulisse. Er konnte sie fast sehen, wie ein Bild in einem Comic: ein Feuerball, der immer größer wurde, bis er explodierte.
Sein Herz klopfte laut, seine Handflächen kribbelten vor Schweiß. Das hier war nicht in Ordnung. Er fühlte es kommen – etwas Zerstörerisches, etwas Großes, etwas Bleibendes. Nach dem Tod seiner Mutter hatte er eine Zeit lang Albträume gehabt, in denen er allein in einem fremden dunklen alten Haus war. Die Einzelheiten verblassten nach dem Aufwachen, aber an den Schrecken jener Nächte erinnerte er sich bis heute, ebenso wie an die Erleichterung, vor etwas entkommen zu sein, das er nicht verstand. Ganz früher hatte er beim Aufwachen nach seiner Mutter gerufen, später hatte er sich angewöhnt, sofort nach dem Aufwachen nach Ava zu greifen. Nur das konnte ihn beruhigen. Er musste ihren Körper spüren und ihre Atemzüge hören, um sich in seinem Zimmer, seinem Haus selbst wiederzufinden. Deswegen hatte er bei ihr im Bett geschlafen, an sie gekuschelt, auch dann noch, als man ihn in der Schule längst dafür verarscht hätte, wenn es rausgekommen wäre.
Das war Jahre her, eine Phase in seiner Kindheit, die so weit zurücklag, dass er nicht mehr wusste, wie lange sie gedauert hatte. Aber noch immer wachte er manchmal mitten in der Nacht auf, halb in der Traumwelt verfangen, und schaute sich panisch in seinem Zimmer um, bis ihm einfiel: Er war jetzt dreizehn, und Ava war ganz in der Nähe, im Zimmer nebenan.
Aber wo war sie jetzt? Er musste sie finden. Sie sehen. Er schob sich durch die Menge, mit offenem Mund und aufgerissenen Augen, wurde hin und her geschubst, allein und verängstigt und auf der Suche nach ihr.
Dann löste sich die Menge auf und strömte auf die Straße, ein Energiefeld aus Anspannung und Schweiß. Shawn spürte eine Aufregung durch seinen Körper schießen, die etwas Neues mit sich führte – ein Fieber im Blut.
Jemand warf einen Mülleimer um. Der verschüttete Müll schien im schwachen Licht der nächtlichen Stadt zu glühen.
Ein Junge rannte mit einem Stein, so groß wie eine Limodose, an ihm vorbei, und Shawn wunderte sich, wo er dieses raue Stück Natur in dieser Stadt aus verschlossenen Türen und poliertem Glas herhatte. Dann sah er drei breitschultrige Männer Äste von einem Baum abbrechen. Sie wirkten eigentlich ganz ruhig – das Feuer in ihren Augen war kein Buschbrand, sondern kontrollierte, gelenkte Wut.
Er folgte ihnen, und nicht nur er – die Menge schien sich hinter ihnen zu versammeln. Aus dem Augenwinkel sah er eine Bewegung: Ein Junge sprang auf ein parkendes Auto, aber Shawn blieb weiter hinter den Männern mit den Ästen, folgte ihnen voller Erstaunen. Fäuste wurden um ihn herum gereckt, Stimmen erhoben sich in Überschwang und Zorn, die Worte drängten sich ineinander, bis sie zu einem Singsang verschmolzen. »Black power!« »Fight the power!«
Die Männer schwangen die Äste und zerschlugen eine Wand aus Glas.
Shawn hatte schon oft Glas splittern sehen, aber noch nie eine so große und saubere, so unsichtbar solide Scheibe. Sie war wie eine Grenze zwischen zwei Welten, durch die nun in eine andere Dimension vorgestoßen wurde. Wieder brüllte die Menge – diesmal klang es wie Triumphgeheul – und rannte über die Glasscherben hinweg. Shawn merkte, dass er wieder vor dem Elektronikladen stand, aber weder Ava noch Ray noch deren Freunde waren zu sehen – sie hatten der Horde im Weg gestanden und waren versprengt worden. Er wusste nicht wohin, lief geradeaus in den Laden, und als unter seinen Füßen Splitter knirschten, vibrierte er am ganzen Körper.
Er drängte sich an eine Wand und machte sich klein. Hier konnte er bleiben und in dem Chaos Ausschau nach einem vertrauten Gesicht halten. Menschen, die er noch nie gesehen hatte, taten Dinge, die er ebenfalls noch nie gesehen hatte. Die Männer mit den Ästen waren von der Menge verschluckt worden, ihr Stolz und ihre Entschlossenheit waren rauschhaftem Wahn gewichen. Der Elektronikladen war voll mit zerbrechlichen, teuren Gegenständen, die im schwachen Licht verheißungsvoll glitzerten. Die Menge drehte durch und griff nach allem, das nicht niet- und nagelfest war – es ging so laut zu, dass Shawn das hohe, vergebliche Kreischen der Alarmanlage kaum hören konnte. Er betrachtete die Szenerie mit starrem Blick und dachte, dass all diese Leute Ärger bekommen würden und er dringend hier wegmusste.
Er brauchte gute fünf Minuten, um sich durch den Laden auf die Straße zu schlängeln. Die Menge war ungebändigt, floss aber wie ein donnernder Fluss in eine bestimmte Richtung. Shawn schwamm mit, folgte den Bewegungen, drängte vorwärts, weg von dort, wo sie hergekommen waren.
Er hörte jemanden »Weg da!« brüllen und sprang gerade noch rechtzeitig beiseite, um einem riesigen Mann auszuweichen, der auf einem nagelneuen Kinderfahrrad davonradelte.
Dann rief jemand seinen Namen. Die Stimme seiner Schwester. Er fuhr herum, schaute in die Richtung, aus der sie zu kommen schien, sah sie aber nicht. Vielleicht war es nur Wunschdenken gewesen.
»Shawn! Hier oben!«
Ava stand auf dem Rand eines Blumenkübels und überragte die Menge um etwa sechzig Zentimeter, wie ein Leuchtturm.
Sie grinste, als er sich zu ihr durchkämpfte. Auch Ray und Duncan warteten dort auf ihn.
»Da bist du ja«, sagte sie und sprang zu Boden. Er musste sich beherrschen, um ihr nicht um den Hals zu fallen, und war froh und verlegen zugleich, als sie stattdessen ihn umarmte.
Duncan pfiff. »Okay, hauen wir ab.«
Er balancierte