Brandsätze (eBook). Steph Cha

Brandsätze (eBook) - Steph Cha


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wie Fliegenaugen.

      »Wo hast du den her?«, fragte Shawn etwas dümmlich.

      »Den hatte ich schon die ganze Zeit dabei. Hast du’s nicht gemerkt?« Duncan lachte und zeigte auf den Elektronikladen. »Beeil dich, wenn du auch einen willst.«

      »Nee, geht schon«, sagte Shawn, als würde er vielleicht beim nächsten Mal einen Gettoblaster klauen und hätte heute nur keine Lust dazu.

      In Wahrheit hatte er noch nie etwas gestohlen, nicht mal eine Tafel Schokolade. In dem ersten Jahr bei Tante Sheila war Ray in Frank’s Liquor, ihrem alten Eckladen, beim Klauen erwischt worden. Nichts Großes, bloß eine Zeitschrift – vorne drauf waren Titten gewesen, Shawn sah sie noch genau vor sich –, aber »der fiese Frank« hatte Ray gezwungen, Tante Sheila anzurufen: entweder sie oder die Polizei. Er war ein echter Kotzbrocken, dessen Atem nach Kippen stank, ein alter Koreaner, der gebrochen Englisch sprach und Ray immer misstrauisch beäugte, aber sie hatten tun müssen, was er wollte.

      Tante Sheila war weinend angekommen und hatte mit Gott und Gefängnis gedroht. Die Szene war denkwürdig genug, um danach den Eckladen zu wechseln, und Shawn hatte für alle Zeiten gelernt, dass Stehlen den Zorn Gottes, eine Gefängnisstrafe und einen vulkanartigen Trauerausbruch von Tante Sheila nach sich zog.

      »Wie du willst.« Duncan nickte Ray und Ava zu. »Aber diese beiden Gettokids hier haben auch was abgegriffen. Zeigt ihm mal, was ihr da habt.«

      »Halt die Klappe, Duncan«, sagte Ray. »Nichts von alldem hier passiert wirklich, klar, Shawn? Das ist alles ein Traum.« Er wedelte mit dem Fingern vor Shawns Gesicht herum, als würde dadurch alles noch unwirklicher erscheinen – diese Nacht, die so anders war als alles, was er kannte.

      Ava verdrehte die Augen, dann zog sie eine Kassette aus der Gesäßtasche. »Die ist ziemlich alt, aber ich hab sie gesehen und gedacht, vielleicht ist das was für dich«, sagte sie. »Du kannst dir meinen Walkman leihen. Aber erzähl’s nicht Tante Sheila.«

      Shawn nahm die Kassette und war sprachlos. Michael Jackson schaute in enger schwarzer Hose und einer schwarzen Lederjacke ernst zu ihm auf. Über seinem Kopf stand in roten Buchstaben das Wort Bad. Shawn rieb mit dem Daumen über das Cover, die Plastikverpackung warf Falten.

      »Danke«, sagte er. Ava wuschelte ihm durch die Haare.

      Duncan klatschte über dem Gettoblaster in die Hände. »Okay, smooth criminals. Hauen wir ab.«

      Er ging voraus, und Shawn fiel auf, dass er eine neue Jacke trug. Die alte Windjacke mit den ausgebeulten Taschen hatte er sich um die Hüfte gebunden.

      »Er sieht aus wie der Grinch, der Westwood ausgenommen hat«, sagte Shawn.

      Ray und Ava brachen in Gelächter aus.

      Die Straße war mit Glas und Müll übersät, als hätten die Läden ihre Eingeweide ausgewürgt. Es roch nach Rauch und Pisse, und überall rannten Menschen brüllend und prügelnd herum wie wilde Kinder.

      Aber Shawn hatte keine Angst mehr.

      Mitten auf der Straße stand ein Kleidergestell aus Metall, die meisten Bügel waren leer – wie abgenagte Knochen an einem Rippenstück. Shawn trat im Vorbeilaufen danach, woraufhin das Ding ins Rollen kam, wackelte und mit lautem Rasseln umfiel.

      »Shawn!«, schrie Ava. Aber es klang belustigt.

      Die Nacht und der Mob und die Gewalt – Shawn wusste mit instinktiver Klarheit, dass diese Dinge ihnen nichts anhaben würden. Wenn dies das Feuer war, waren sie die Flamme. Sie waren Teil davon, geschützt in der Glut.

      1 – SAMSTAG, 15. JUNI 2019

      Grace brauchte zwanzig Minuten, um einen Parkplatz zu finden. Sie entdeckte einen, für den man sieben Dollar zahlen musste, hoffte auf billigere Alternativen, entfernte sich dabei aber nur immer weiter von ihrem Ziel, bis sie schließlich wendete und beschloss, dass der erste Parkplatz gar nicht so schlecht war. Die Innenstadt war ein Labyrinth aus Einbahnstraßen, die sie alle von dort wegzuführen schienen, wo sie hinwollte. Zweimal falsch abgebogen, schon war sie in einer zwielichtigen Gegend, in der auf beiden Straßenseiten Zelte standen. Sie vergewisserte sich, dass die Autotüren verriegelt waren.

      Als sie endlich geparkt hatte – für neun Dollar und ziemlich weit weg –, war sie aufgeregt und leicht verschwitzt, und außerdem plagte sie wie immer, wenn sie zu spät kam, das schlechte Gewissen. Für den Fußweg zum Gericht würde sie noch mal zehn Minuten brauchen und dort Miriam und Blake in der Menge erst mal finden müssen. Sie schrieb ihrer Schwester eine Nachricht.

      Sorry, hab gerade geparkt. Wo bist du?

      Sie war fast am Ziel und feilte gerade an einer Entschuldigung, als Miriam antwortete.

      Wir sind auf dem Weg! Mit Uber.

      Es war 18.13 Uhr, fast fünfzehn Minuten später als verabredet. Grace war erleichtert und kam sich gleichzeitig dumm vor, denn sie hätte es eigentlich wissen müssen: Miriam lebte nach »koreanischer Zeit«, wie sie es nannte, obwohl sie die Einzige in der Familie war, die nicht immer auf die Sekunde pünktlich kam. Doch sie hatte behauptet, die Gedenkfeier für Alfonso Curiel sei ihr wichtig, weswegen Grace angenommen hatte, Miriam würde sich Mühe geben und vielleicht nicht erst im allerletzten Moment ausgehfertig machen.

      Aber sie hatte ihre Schwester seit über drei Wochen nicht gesehen und wollte den Abend nicht mit unwirschen Vorwürfen beginnen, auch wenn Miriam ihren Mädelsabend in letzter Minute vereitelt und Grace in die Rolle des fünften Rads am Wagen gezwungen hatte. Eigentlich hatten sie zu zweit zum Thai gehen wollen, aber dann war diese Gedenkfeier angesetzt worden, und Miriam hatte Grace überredet, sie vor dem Essen dorthin zu begleiten.

      Miriam lud sie auf Facebook ständig zu Veranstaltungen ein. Grace ging nie hin und wurde hin und wieder von Miriam für ihre Achtlosigkeit, Gleichgültigkeit, Faulheit gescholten, als wäre es ohne Bedeutung, dass sie einen Vollzeitjob hatte und in Northridge arbeitete. Diesmal hatte sie keine Ausrede gehabt. Sie hatte heute nicht in der Apotheke arbeiten müssen und war sowieso mit Miriam in L.A. verabredet gewesen. Als Blake sich ungefragt anschloss, konnte sie nichts dagegen tun. Sie konnte ihm ja schlecht verbieten, eine öffentliche Versammlung zu besuchen. Wenn er wenigstens nicht mit zum Essen kommen würde – aber er hatte für drei in irgendeinem neuen Lokal reserviert, das Miriam ausprobieren wollte. Die Rechnung ging natürlich auf ihn. Grace grauste vor den nächsten Stunden. Und schon jetzt ließ Miriam sie hängen.

      Die Gedenkfeier fand vor dem Bundesgerichtsgebäude statt, einem riesigen, glänzenden Würfel, der einem bösen Apple Store glich. Etwa hundert Menschen waren dort versammelt und hörten schweigend einem großen schwarzen Mann zu, der gerade eine leidenschaftliche Rede hielt. Grace blieb ein Stück abseits auf dem Gehsteig stehen und überlegte, wo sie auf ihre Schwester warten sollte.

      Sie sah sich um und bemerkte ein paar Meter weiter eine zweite Gruppe: etwa zehn weiße Männer im Alter zwischen zwanzig und vierzig, die rote Mützen und schwarze Polohemden trugen wie die Mitglieder einer überalterten Studentenverbindung oder einer Musik­kapelle. Einer von ihnen hielt ein Schild hoch, auf dem stand: Kommt und fangt euch eins, Antifa. Grace wusste nicht, wer Antifa war, aber sie wollte weg von den Männern. Bei ihrem Anblick überkam sie das gleiche unangenehme Gefühl wie bei den weißen Typen im College, die nur deshalb Koreanisch belegt hatten, um im Seminar die Mädchen anzustarren.

      Sie stellte sich in die letzte Reihe der Menschenmenge, schaute in die gleiche Richtung wie alle anderen und hoffte, nicht aufzufallen. Nachdem sie schon mal da war, konnte sie genauso gut zuhören.

      Es war nicht so, dass ihr alles gleichgültig gewesen wäre. Ihr war bewusst, dass auf der Welt viele schlimme Dinge passierten, und natürlich machte es ihr zu schaffen, dass es Rassisten und schreckliche Menschen gab und dass immer wieder Schwarze zu Tode kamen.

      Und diese Geschichte hier war ganz besonders furchtbar. Alfonso Curiel war fast noch ein Kind gewesen, ein Highschoolschüler, der mit seinen Eltern in Bakersfield lebte. Vorgestern Nacht war er in seinem eigenen Hinterhof von einem Polizisten erschossen worden. Einer seiner


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