Brandsätze (eBook). Steph Cha
über zwanzigtausend Twitter-Follower, wie er Grace gegenüber mindestens fünfmal erwähnt hatte. »Vermutlich waren sie vorher im Bells & Whistles. Da läuft ein Hashtag. Sie sind weg, bevor sie dort rausgejagt wurden, aber es waren schon Leute auf dem Weg, um sie sich vorzuknöpfen. Die kommen jetzt hierher.«
Graces Schwips wurde von Furcht zerstäubt. »Ist das dein Ernst? Wer?«
Blake grinste vor Aufregung. »Alle möglichen. Die Leute von den Democratic Socialists of America, Aktivisten, wahrscheinlich auch ein paar Gaffer, die sich am Samstagabend langweilen. Auch ein paar Leute von der Gedenkfeier. Wir waren nicht die Einzigen, die die Arschlöcher da bemerkt haben.«
Grace stellte sich vor, was passieren würde, wenn nicht bloß ein paar auf Krawall gebürstete, selbstgerechte Weiße aufeinandertrafen, sondern auch noch angepisste Schwarze mit dazukämen.
»Verdammt, Blake«, sagte Miriam. »Ich weiß, dass das Schwachmaten sind, aber weiße Schwachmaten haben gern mal Schusswaffen dabei. Das könnte echt böse enden.«
Grace war erleichtert – wenigstens ihre Schwester zeigte ein bisschen Vernunft. »Wir gehen besser«, sagte sie.
»Was?« Blake war entrüstet. »Wir können nicht gehen. Wir müssen hier Widerstand leisten.«
Beide sahen Miriam an. Grace hoffte so sehr, ihre Schwester würde sich auf ihre Seite schlagen, dass sie das Gefühl hatte, der Raum würde sich drehen. Dann nahm Miriam Blakes Hand. »Diese Arschlöcher haben ihren Samstag damit verbracht, die Gedenkfeier für einen ermordeten Teenager zu stören«, sagte sie. »Ich lasse mich von denen nicht verjagen.«
Sie hatte sich entschieden. Grace wusste: Wenn Miriam eine Entscheidung getroffen hatte, konnte man sich auf den Kopf stellen – es würde nichts ändern.
»Gut, ich fahre nach Hause«, sagte sie.
»Du wolltest doch bei uns übernachten«, protestierte Miriam.
»Das war, bevor ihr beide einen Wildwest-Showdown angezettelt habt.«
»Kannst du überhaupt noch fahren?«
»Klar. Ich werde gerade wieder nüchtern.«
»Sicher? Du bist nicht sauer auf mich, oder?«
Miriam drückte ihre Hand, und Grace dachte an all die Gründe, die sie hatte, sauer auf ihre Schwester zu sein. Wegen eines idiotischen Revierkampfs ließ sie zu, dass Grace allein und betrunken die Bar verließ, womöglich ausgeraubt oder vergewaltigt wurde oder einen tödlichen Unfall baute. Sie hatte zugelassen, dass Blake ihren ersten gemeinsamen Abend seit Wochen versaute und ihnen die kostbare Zeit zu zweit mit Whisky und seiner Angeberei verdarb. Sie hatte den Kontakt zu ihrer Mutter abgebrochen und die Familie gesprengt, und Grace verstand immer noch nicht, warum. Eine Woge aus konfusen, alkoholgetränkten Gefühlen schwappte über sie hinweg. Sie musste sich an Miriam festhalten, um nicht umzukippen, nicht zu weinen.
»Ich will einfach nur nach Hause.« Sie umarmte ihre Schwester. »Bitte lass dich nicht erschießen.«
Nur mit Mühe fand sie ihren Wagen wieder, und als sie am Steuer saß, wurde ihr klar, dass sie so nicht ins Valley zurückfahren konnte.
Es war nach Mitternacht, aber als sie zu Hause anrief, nahm Yvonne sofort ab, hörte Grace lallen, weckte Paul und sagte, sie würden sie abholen. Weder schimpfte sie noch beschwerte sie sich – sie wirkte eher erleichtert, dass das Problem nicht schlimmer war und gelöst werden konnte. Vierzig Minuten später saß Grace neben ihrer Mutter im Auto und sabberte ihren Sicherheitsgurt voll, während Paul hinter ihnen ihren Wagen nach Hause fuhr. Ihr tat der Kopf weh vor Scham und Dankbarkeit, Bitterkeit und Liebe.
2 – DIENSTAG, 25. Juni 2019
Sie warteten auf Ray. Seit einer Stunde standen sie schon aufgereiht unter der gleißenden Sonne auf dem betonierten Parkplatz. Sie wollten sich nicht einfach gemütlich ins Auto setzen und die Klimaanlage anstellen, denn wenn Ray rauskam, würde er nach ihnen Ausschau halten, und es war ihnen ein Anliegen, bereit zu sein, wenn er in ihre Richtung sah.
Es wäre ein schöner Tag für ein Picknick im Schatten oder einen kleinen Spaziergang gewesen, doch Shawn litt unter der brütenden Hitze, und über Nishas Oberlippe stand der Schweiß. Selbst die Kinder, die auf der Fahrt noch so aufgedreht gewesen waren, verhielten sich still. Ihre Aufregung wurde durch das lange Warten auf dem heißen, hässlichen Parkplatz gedämpft. Tante Sheila war zum Glück zu Hause geblieben, um das Essen vorzubereiten. Eine ohnmächtige Oma konnte jetzt wirklich keiner gebrauchen.
Dasha hielt einen im Sonnenlicht glitzernden Ballon in der Hand, der fast halb so groß wie sie war. Auf dem silberblauen Plastik stand in Regenbogenfarben Welcome Home. Sie hatte ihn selbst ausgesucht, von ihrem Taschengeld bezahlt und darauf bestanden, ihn mit nach Lompoc zu nehmen. Shawn sah jetzt ein, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Dasha in ihrem sonnengelben Kleid mit dem Ballon würde das Erste sein, das Ray zu sehen bekam.
Neben ihr schwitzte Darryl in dem Kragenhemd, in das Tante Sheila ihn gezwungen hatte. Die Krawatte hatte er auf der Fahrt erst gelockert, dann abgenommen. Shawn würde ihm später beim Binden helfen – oder Ray, falls er noch wusste, wie das ging.
Der Junge zog den Ballon zu sich herunter und wedelte ihn wie einen Fächer zwischen sich und seiner Schwester hin und her. Der Ballon quietschte in seinen Fingern. Dasha protestierte und umklammerte die lasche Schnur. Dann gab sie auf und beugte sich vor, um vielleicht doch eine kühle Brise zu erhaschen. Die beiden sehen aus wie betende Engel, die die Köpfe zusammenstecken und auf ihren Vater warten, dachte Shawn.
Um sie herum erstreckte sich eine von Maschendraht umzäunte Betonwüste – grimmiges Grau mit Flicken aus sterbendem Gras. Hinter dem Maschendraht lagen die starren, stummen Gebäude des Bundesgefängnisses, in dem Ray die vergangenen zehn Jahre verbracht hatte.
Endlich öffnete sich in der Mauer eine Tür, und heraus trat ein Mann mit einem Pappkarton im Arm, der sein Gesicht dem Himmel und der Freiheit zuwandte.
»Da ist er«, sagte Nisha, die auf den Zehenspitzen stand. »Da ist er!« Sie winkte und rief: »Ray!«
Er sah sie und lächelte. Richtete sich auf, ging schneller. Es war wirklich Ray, und einen Moment lang konnte Shawn den Anblick kaum fassen. Sein Cousin trug ein nagelneues Hemd und schicke dunkle Jeans – Nisha hatte ihm das Entlassungsoutfit schon vor einem Monat geschickt. Ray hatte früher großen Wert auf sein Aussehen gelegt, und es war seltsam, ihn jetzt wieder in normaler Kleidung zu sehen. Er schien zu schimmern wie eine in allen Details eingebildete Fata Morgana.
Er war es leibhaftig – und der Leib war gealtert, wie Shawn bemerkte. Nicht seit seinem letzten Besuch vor ein paar Monaten, aber seit dem letzten Mal, dass er Ray in Freiheit gesehen hatte. Außerhalb des zeitlosen Besucherraums war es offensichtlich: Ray war ein vierundvierzigjähriger Mann, der die letzten Überreste seiner Jugend in einer überbelegten Zelle hinter sich gelassen hatte. Sein Haar war leicht ergraut, und er war zwar schlank, besaß aber nicht mehr die drahtige Härte von früher. Die Tätowierungen an seinen Unterarmen hatten weiche Ränder bekommen und waren verblichen, und aus der schwarzen Tinte war ein schmutziges Grün geworden: Darryl und Dasha in gotischen Buchstaben, umgeben von einem dichten, dornigen Geflecht aus Mustern und Symbolen.
Nisha hatte einen Platz auf Rays Brust bekommen, wie Shawn wusste. Schon vor der Hochzeit hatte sich Ray Laneisha über das Herz tätowieren lassen, ein spontaner nächtlicher Entschluss, den er nicht bereut hatte. Auf dem rechten Bizeps eine weitere Ehrerweisung: Ava. Shawn trug den Namen an der gleichen Stelle. Als er vierzehn geworden war, hatten er und Ray sich die Tattoos von ihrem Freund Tramell stechen lassen, und auf dem Rücken den Namen ihrer Gang, Baring Cross, angeordnet wie ein Kruzifix. Die Worte überschnitten sich beim R, Shawn spürte sie warm auf seiner Haut. Ray in Freiheit war ein unwirklicher Anblick. Berauschend und freudig. Doch mit ihm kehrte auch ein erhöhtes Bewusstsein für all das zurück, was sie hierhergeführt hatte. Die Vergangenheit hüllte sie in dünne, klebrige Schichten ein.
Die Kinder rissen ihn aus seiner Trance in die grelle Gegenwart zurück.
»Daddy!«