Brandsätze (eBook). Steph Cha
gesagt. Ganz wie Shawn vermutet hatte.
»Nicht dass ich ein großes Vorbild wäre. Ich war ein grauenhafter Schüler«, sagte Ray. »Ich habe ständig geschwänzt und den größten Mist gebaut.«
»Was denn?«, fragte Darryl mit echter Neugier.
»Ach, das willst du gar nicht wissen.« Ray lächelte verschämt und genoss im Stillen seine Erinnerungen.
»Nichts Gutes«, sagte Shawn. Rays Nostalgie bereitete ihm Sorgen. Shawn hatte die guten Zeiten nicht miterlebt, die Albernheiten und die Feiern, die sich mit den schlechten abgewechselt hatten. Rays Jugend war anders gewesen, und er hatte eine längere Kindheit gehabt. Damals hatte »in einer Gang sein« vor allem bedeutet, zu posen und mit Freunden abzuhängen. Ray sprach über diese Zeit wie ein abgehalfterter Sportler, der an seine Highschoolerfolge zurückdenkt und in weichgezeichneten Erinnerungen schwelgt.
»Dein Onkel ist immer so ernst.« Rays Lächeln verbarg nicht seinen Unmut. Shawn hatte ihn verärgert, hatte ihm den traurigen Versuch vermasselt, seinen Sohn mit seiner Vergangenheit als böser Bube zu beeindrucken – jene Vergangenheit, die ihm fast ein Jahrzehnt in einem Bundesgefängnis eingebrockt hatte.
Dasha rief aus der Küche: »Mom! Onkel Shawn! Sagt Darryl, er soll seinen Hintern hierherbewegen.«
Ray rief zurück: »Darryl kann hierbleiben. Komm auch, Little D. Der Abwasch kann warten.«
Der Wasserhahn wurde abgestellt, und Dasha kam an den Tisch.
»Umarm deinen Daddy mal«, sagte Ray.
Ray war ein eifersüchtiger Mensch und hatte viel Energie darauf verschwendet, sich den Kopf über Shawn und Nisha zu zerbrechen, als wären sie zu dieser Art von Verrat fähig. Trotzdem musste Shawn sich eingestehen, dass ein kleiner Teil von ihm – das Schlechteste tief in ihm drin – seinen Cousin mit bitterer Missgunst als Rivalen ansah. Seit er denken konnte, kämpfte er gegen das üble Gefühl an, nur lose mit der Welt verbunden zu sein, jederzeit von ihr abgeschnitten werden zu können. Das Gefühl kam und ging, blieb mitunter aber jahrelang. Wenn seine Tante und sein Onkel nicht gewesen wären, wäre er elternlos aufgewachsen; wenn sein Cousin nicht gewesen wäre, wäre er ohne Bruder aufgewachsen. Diese Bindungen hatten ihn überleben lassen. Es schien also nur folgerichtig, dass er den Kindern seines Cousins ein Vater war. Diese Kinder, Darryl und Dasha, waren seine Kinder. Aber man konnte nicht umhin, dass Ray ihr Vater war.
Shawn kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo Jazz und Nisha auf seinem alten Klappsofa saßen und Champagner tranken, während Tante Sheila in einem Sessel Platz genommen hatte und Monique etwas vorlas. Jazz lächelte ihm zu, und er betrachtete ihren Mund, den er so liebte, und ihre gütigen, klaren Augen.
Auch Nisha sah ihn an und nickte bedeutungsvoll in Richtung Esszimmer. Er hob den Daumen, und sie legte die Hand aufs Herz. Nein, seine Gefühle für Nisha waren ganz anders als die für Jazz. Er liebte sie, aber wie? Nicht wie eine Ehefrau, nicht wie eine Freundin. Nicht wie eine Mutter, nicht ganz. Vielleicht wie eine Schwester.
3 – DONNERSTAG, 8. AUGUST 2019
In der Woori Pharmacy war endlich Feierabend. Grace tat der Rücken weh, und wegen des hellen Lichts hatte sie Kopfschmerzen bekommen. Gegen beide Wehwehchen waren ungefähr hundert verschiedene Pillen in der Apotheke vorrätig, aber nichts konnte ihre Erschöpfung nach zehn Stunden auf den Beinen lindern. Seit sie heute Morgen mit Paul aus dem Haus gegangen war, hatte sie keine Minute für sich gehabt und es nicht einmal geschafft, Miriam zum Geburtstag zu gratulieren.
Javi, der pharmazeutisch-technische Assistent, ging nach seiner Schicht direkt nach Hause, aber Grace und Paul hatten noch zu tun. Grace musste Javis Arbeit überprüfen und verschriebene Medikamente vorbereiten, sonst würde sie morgen früh nicht mehr hinterherkommen. Paul saß auf dem Hocker und tippte Zahlen in die riesige Kasse ein, die schon seit Graces Jugend im Laden stand, als sie hier im Laden ausgeholfen hatte und Onkel Joseph zur Hand gegangen war. Die meisten Apotheken arbeiteten sicher längst nicht mehr analog, aber sie überließ die Buchhaltung gerne Paul und Yvonne. Ihre Eltern konnten gut mit Zahlen umgehen und sahen nicht ein, warum sie Geld für Buchhaltungssoftware ausgeben sollten, wo sie doch so viele Jahre ohne klargekommen waren.
Mit fast fünfundsechzig sah Paul aus, als könnte er ohne Weiteres noch zwanzig Jahre an der Kasse stehen, wenn er wollte. Seine gerade Haltung war trotz der dicken Krampfadern, die langes Stehen schmerzhaft machten, beeindruckend, und er strahlte eine Aura von Kompetenz und Stolz aus, die Grace leider nicht geerbt hatte. Vielleicht war es Immigrantenschneid. Miriam hatte ihn auch nicht.
Grace war immer bewusst gewesen, dass ihre Eltern sehr hart arbeiteten. Sie hatten schon vor der Geburt der Kinder zusammengearbeitet – eine Zeit, die sich Grace kaum vorzustellen vermochte –, und danach hatte Paul jede Minute damit verbracht, Geld zu verdienen, während Yvonne die Töchter aufzog. Sie war eine aufopferungsvolle Mutter und erfüllte ihre Rolle mit einer Hingabe und einem Feuereifer, die ihr auf anderen Gebieten Preise eingebracht hätten. Seit Grace ebenfalls im Laden stand, erlebte sie die unerschütterliche Arbeitsmoral der Einwanderergeneration aus unmittelbarer Nähe und konnte sie besser verstehen. Mit ihren Eltern konnte sie nicht mithalten.
Zum Glück hatte sie studiert. Die Woori Pharmacy war der Familienbetrieb der Parks, aber Grace war die einzige approbierte Apothekerin in der Familie. Onkel Joseph war zwar Apotheker, aber nicht ihr echter Onkel, auch wenn sie ihn von klein auf kannte, denn er war Pauls bester Freund und Geschäftspartner. Nachdem Paul fünfzehn Jahre lang Onkel Josephs alten Laden gemanagt hatte, hatten sie die Woori gemeinsam gekauft, als Grace noch zur Highschool ging. Beide Männer hatten gehofft, ihre Kinder würden ins Geschäft einsteigen, aber nur Grace hatte es getan. Onkel Josephs Kinder redeten nicht mit ihm, und Miriam hatte nie Interesse gezeigt, selbst als sie sich noch zur Familie zählte. Nur Grace war ein braves Mädchen gewesen, hatte studiert und war wieder nach Hause gekommen. Onkel Joseph war jetzt im Vorruhestand, sodass sie die eigentliche Apothekerin in der Woori war. Ihre Eltern brauchten sie.
Ihre Situation war nicht besonders fair, auch wenn sie sich niemals beschwert hätten. Sie hatten riesige Opfer gebracht, damit ihre Kinder in den USA aufwachsen konnten. Korea war in den Achtzigerjahren zwar ein armes Land gewesen, aber dort hätten sie es einfacher haben können. Paul hatte einen Collegeabschluss und einen guten Job bei Hyundai. Damit hätten sie sich zufriedengeben und in relativem Komfort in der Nähe von Familie und Freunden ihr Leben verbringen können, doch stattdessen zogen sie nach Los Angeles, wo sie niemanden kannten und die Sprache nicht verstanden. Pauls Diplom und Berufserfahrung waren hier wertlos. Er musste von vorne anfangen, zählen, lesen und schreiben lernen. Für Yvonne war es sicher noch schlimmer gewesen. Sie hatte Paul mit nur neunzehn Jahren geheiratet – einen zehn Jahre älteren Mann auf den unteren Stufen der Karriereleiter. Mit einundzwanzig musste sie mit ihm den Ozean überqueren, ohne selbst viel Einfluss auf diese Entscheidung gehabt zu haben, wie Grace vermutete.
Tag um Tag, Dollar um Dollar hatten sie sich in diesem fremden Land ein neues Leben aufgebaut, nur damit Grace und Miriam in Freiheit und Unabhängigkeit als Amerikanerinnen aufwachsen konnten. Manchmal fragte sich Grace, ob ihre Eltern das mitunter bereuten. Miriam war so amerikanisch, dass sie sich von der eigenen Mutter losgesagt hatte, was im Konfuzianismus geradezu ein Schwerverbrechen war. Grace war die pflichtbewusste Tochter und hatte sich auch mit siebenundzwanzig Jahren nicht von ihren Eltern gelöst. In Korea wäre sie inzwischen verheiratet und würde ihren Mann drängen, ihre Eltern in Rente gehen und bei ihnen einziehen zu lassen. Hier dagegen durfte sie mietfrei bei ihnen wohnen, und ihre Eltern wünschten sich nichts mehr, als dass sie die Apotheke übernahm, der Lohn für all die Jahre des Schuftens.
Grace hatte auch deshalb ein schlechtes Gewissen, weil ihr der Stolz ihrer Eltern auf den Laden bewusst war, sie ihn aber nicht wirklich teilte. Sie war dankbar und schätzte das Geschäft, sah es aber als das, was es war: ein knapp zwanzig Quadratmeter großer Glaskasten neben einem koreanischen Foodcourt und einem Supermarkt in einer hässlichen Einkaufsmeile im Valley. Die Glaswände zwischen den Aufstellern für Vitaminpräparate und Salben und den Postern mit Shampoowerbung und Lottoergebnissen waren durchsichtig, aber die Welt draußen war nicht zu sehen. Nie schien die Sonne, immerzu brannte das Kunstlicht des Hanin Market,