Brandsätze (eBook). Steph Cha

Brandsätze (eBook) - Steph Cha


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und sogar einem koreanischen Ableger des U.S. Post Office teilten – nur damit die Koreaner aus dem Valley nicht extra nach Koreatown fahren mussten, um ihre Besorgungen auf Koreanisch erledigen zu können. Es war praktisch, aber nicht gerade der amerikanische Traum.

      Außerdem war die Arbeit anstrengend. Grace konnte sich nicht vorstellen, die nächsten dreißig Jahre so weiterzumachen. Das Studium hatte sie auf die riesigen körperlichen Anforderungen nicht im Mindesten vorbereitet. Obwohl sie Kompressionsstrümpfe und klobige, hässliche Turnschuhe trug, ging sie jeden Abend mit Schmerzen nach Hause.

      Andererseits hatte sie keine Ahnung, was sie sonst machen sollte. Sie war für diesen Beruf erzogen worden und nach der Arbeit dermaßen erledigt, dass ihr kaum Zeit blieb, sich etwas anderes zu überlegen. Sie war nicht wie Miriam, die Englische Literatur studiert und Grace die elterlichen Hoffnungen allein aufgebürdet hatte. Sie konnte nicht wie Miriam sein – eine von ihnen musste ja schließlich an die Familie denken.

      Sie bearbeitete das letzte Rezept und streckte sich. Wieder ein Tag vorbei.

      Paul rief von der Kasse aus auf Koreanisch: »Alles erledigt?« Er erhob sich vom Hocker und machte sich für den Heimweg bereit.

      Grace wollte vorher noch Miriam anrufen. Die Fahrt nach Hause dauerte keine zehn Minuten, und sie wollte ihre Mutter nicht an Miriam erinnern – auch wenn Yvonne den Geburtstag natürlich nicht vergessen hatte.

      »Ich muss Unni anrufen«, sagte sie.

      Er verstand und nickte. Also hatte er daran gedacht, nur den ganzen Tag über nichts gesagt. »Dann besser jetzt«, sagte er. »Ich warte im Auto.«

      »Soll ich ihr Glückwünsche von dir ausrichten?«

      »Wenn du willst.«

      »Willst du mit ihr sprechen?«

      »Sie kann zu Hause anrufen«, sagte er und ging.

      Mit Paul hatte sich Miriam genau genommen nicht überworfen, aber soweit Grace wusste, bestand auch zwischen ihnen kein Kontakt mehr. Das mochte an Pauls Solidarität mit Yvonne liegen, denn er war stinksauer gewesen, dass Miriam sich ihrer Mutter gegenüber so herzlos verhielt, doch es konnte genauso gut darin begründet sein, dass er ohne die vermittelnde Rolle seiner Frau keine funktionierende Beziehung zu Miriam aufrechterhalten konnte. Als Grace auf der Uni war, hatte sie nur dann mit Paul gesprochen, wenn Yvonne ihn ans Telefon holte. Warum sollte es mit Miriam anders sein? Ihr Vater war da eben seltsam. Er würde Miriam niemals von sich aus anrufen, geschweige denn sich mit ihr verabreden.

      Das Freizeichen ertönte, und Grace hoffte, die Mailbox würde rangehen. Sie hatte Miriam seit diesem furchtbaren Abend in der Bar nicht mehr gesehen. Nachdem sie gegangen war, waren anscheinend etwa dreißig Leute dort aufgetaucht, und es hatte Geschrei und ein Handgemenge gegeben, bis irgendwann jemand die Polizei rief, woraufhin natürlich alle stinksauer waren und zwei Männer verhaftet wurden: ein Demonstrant, weil er einen Western Boy geschlagen hatte, und ein Western Boy, weil er einen Demonstranten geschlagen hatte. Der Western Boy hatte ein Bowiemesser am Fußknöchel getragen. Wahrscheinlich hatte er das einfach mal in irgendeinem Film gesehen, aber es war trotzdem erschreckend, denn in Filmen wurden mit solchen Messern Kehlen durchgeschnitten.

      Miriam tat so, als wäre das keine große Sache gewesen, als wäre Grace völlig grundlos durchgedreht. Aber in den letzten eineinhalb Monaten war es immer häufiger zu Unruhen und Auseinandersetzungen auf den Straßen und hasserfüllten Debatten im Internet gekommen, und die Proteste und Gegenproteste hatten sich in einem Fieber der Selbstgerechtigkeit immer weiter aufgebauscht. Gestern dann hatte eine Grand Jury in Bakersfield die Anklage gegen Officer Trevor Warren wegen der Erschießung von Alfonso Curiel abgewiesen.

      Grace hatte die Geschichte seit der Kundgebung verfolgt, auch wenn ihre Wut und Trauer inzwischen verraucht waren, wie sie ehrlicherweise zugeben musste. Sie hatte deshalb ein schlechtes Gewissen, konnte sich aber nicht dazu bringen, sich weiter um einen fremden toten Jungen Gedanken zu machen, jedenfalls nicht mit besonderer Leidenschaft. Der Rest der Welt drehte sich ja offensichtlich weiter.

      Und wie sich herausgestellt hatte, war der Junge doch kein Chorknabe gewesen und bei seinem Tod nicht zum ersten Mal mit der Polizei aneinandergeraten – in Wahrheit war er gerade auf der Flucht vor ihr, als er in den Hinterhof seines Elternhauses rannte. Und da war auch kein rassistischer Nachbar gewesen, der ihn völlig grundlos gemeldet hatte. Jemand hatte Alfonso Curiel nach Mitternacht draußen herumstreifen sehen und mitbekommen, dass er vor den Haustüren anderer Leute Pakete klaute. Viele Gangs hatten sich inzwischen auf Paketdiebstahl spezialisiert, und es wurde spekuliert, dass Curiel zu einer kriminellen Bande gehörte.

      Natürlich war all das keine Rechtfertigung dafür, dass er erschossen wurde, aber – ob zufällig oder nicht – die Presse verhielt sich seit diesen Enthüllungen auffallend ruhig, und Grace machte die Tragödie weniger zu schaffen. Trotzdem kam ihr die Entscheidung der Grand Jury vor wie ein Schlag in den Magen, denn ohne einen Prozess gab es keine Chance auf die geringste Gerechtigkeit für den armen Jungen.

      Die Reaktion erfolgte prompt: In ganz Kalifornien kam es zu Demonstrationen, und die größte fand in Downtown Los Angeles statt, wo die Polizei in Kampfmontur anrückte, bereit, jeglichen Tumult im Keim zu ersticken. Miriam erlebte hautnah mit, wie die Polizei Pfefferspray einsetzte und es zu Verhaftungen kam.

      Sie postete Bilder davon in den sozialen Medien. Grace war sich sicher, dass sie ständig das Handy in der Hand hatte, Retweets zählte, Kommentare likte. Aber wenn Grace sie anrief, nahm Miriam nicht ab.

      Genau wie jetzt. Es war nach halb acht – wahrscheinlich saß sie irgendwo mit Freunden beim Essen und verbrachte einen wunderbaren Abend. Sie würde sehen, dass Grace angerufen hatte. Das reichte.

      Das Haus roch nach Miyeok, koreanischer Seetangsuppe – der leicht brackige Geruch stieg Grace sofort in die Nase, als sie eintrat. Yvonne stand in der Küche und hantierte mit den Töpfen auf dem Herd. Grace schaute sie an, und ihr Herz zog sich zusammen. Ihre Mutter sah so klein und müde aus. Ihre Schultern hingen schlaff herunter, ihre Augen wurden immer schlechter.

      »Ich bin zu Hause«, sagte sie.

      »Eung«, erwiderte Yvonne schwach. Ohne aufzusehen schwenkte sie den Kopf in Graces Richtung. »Essen ist fertig. Kannst du den Tisch decken?«

      Grace holte Teller, Löffel und Essstäbchen und verteilte sie, während Yvonne Seetangsuppe, Eundaegu-jolim, Banchan und Reis auf den Tisch stellte. Paul war in sein Zimmer gegangen, um sich umzuziehen oder fernzusehen oder was auch immer er abends machte, während die Frauen sich um das Essen kümmerten. Mit unfehlbarem Instinkt erschien er immer genau in dem Augenblick, wenn alles fertig war. Als er das Gebet sprach, schloss Grace die Augen. Sie erinnerte sich daran, was Miriam immer gesagt hatte: Umma kocht das Essen, wir decken den Tisch, und Appa setzt sich hin und dankt Gott.

      Er erwähnte weder Miriam noch ihren Geburtstag. Das tat er in Yvonnes Gegenwart nie. Doch es half nichts. Die Atmosphäre im Haus war bedrückend.

      Grace saß auf ihrem Platz und betrachtete den reich gedeckten Tisch. Ihre Mutter saß neben ihr, ihr Vater gegenüber neben dem leeren Stuhl. Das also hatte Yvonne den ganzen Tag lang gemacht: ein riesiges Festmahl gekocht, eine ganze Platte mit Kohlenfisch und Rettich in einer scharfen Gochujang-Sauce. Grace liebte den Eundaegu-jolim ihrer Mutter. Er war auch Miriams erklärtes Leibgericht, das Yvonne immer dann gekocht hatte, wenn ihre ältere Tochter zu Besuch kam.

      Aber der eigentliche Höhepunkt war die Miyeok-guk, die Seetangsuppe, die Yvonne zu jedem Geburtstag in der Familie zubereitete, von ihrem eigenen abgesehen. Sie hatte Grace erzählt, dass Mütter diese Suppe direkt nach der Entbindung zu sich nehmen, weil die Nährstoffe die körperliche Erholung unterstützten, und dass ihre eigene Mutter ihr die Suppe nach den Geburten von Miriam und Grace eimerweise ins Krankenhaus getragen hatte. Es war eine Art traditionelle koreanisch-kulinarische Nabelschnur, die jedes Jahr an Geburtstagen zur Feier der Verbindung mit der Mutter, der Geburt und dem Körper gegessen wurde. Und da stand sie, mitten auf dem Tisch, unmöglich zu übersehen, und stellte sie vor die schwierige Aufgabe, nicht über sie zu sprechen.

      Grace war fassungslos über Yvonnes Masochismus. All die vergebliche


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