Brandsätze (eBook). Steph Cha

Brandsätze (eBook) - Steph Cha


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wog seine Optionen ab, und Shawn sah, welche Freude es ihm bereitete, selbst entscheiden zu können. »Okay, ich kann warten«, sagte er schließlich. »Ich will nur in mein Zuhause.«

      Das Zuhause war das Haus an der Ramona Road nahe der 138 in Palmdale. Ray war noch nie in dieser Gegend gewesen, seine Familie war ohne ihn hergezogen. Shawn wusste noch, wie er selbst das Haus zum ersten Mal gesehen hatte – am Tag seiner eigenen Entlassung aus dem Gefängnis vor sieben Jahren. Eine Entlassung für immer, wie er sich geschworen hatte.

      Tante Sheila hatte ihn abgeholt. Allein. Ray saß in Lompoc ein, und Onkel Richard war an Prostatakrebs gestorben, während seine beiden Jungs hinter Gittern saßen, wofür Shawn sich bis heute schämte. Da alle Männer weg waren, war Tante Sheila bei Nisha eingezogen, um ihr mit Darryl und Dasha zu helfen. Sie hatten das Haus in Palmdale nach der Wirtschaftskrise gekauft und Los Angeles gegen Antelope Valley, das staubige Wüstenland in den hinteren Ecken von LA County eingetauscht. Nisha arbeitete am Flughafen LAX und musste seit dem Umzug statt zehn nun siebzig Meilen pendeln. Aber die Gegend war bezahlbar und ruhig, weit weg von den bitteren Erinnerungen und den Gangs in South Central. Außerdem wohnten sie kaum zwanzig Meilen vom California State Prison in Lancaster entfernt, wo Tante Sheila Shawn so oft wie möglich besucht hatte.

      Palmdale war völlig anders als ihre alte Wohngegend. Keine Hektik, kein Chaos. Keine Eckläden, keine Helikopter, keine johlenden, herumstreunenden Teenager. Nur trockene Vorstadt mit einem groben, einfachen Äußeren. Es war langweilig hier, und Shawn hatte die fade Ruhe mit den Jahren schätzen gelernt. Er spürte, dass Ray in seinem Sitz hin und her rutschte, als sie am Ortsschild von Palmdale vorbeifuhren. Viel gab es nicht zu sehen: einen Großmarkt, einen Drahtzaun, struppiges Gebüsch auf hartem gelben Boden, Stromkabel vor einem leeren, brennenden Himmel.

      »Das ist es also, ja?«, fragte Ray, als sie vom Freeway abgebogen waren und den von Reihenhäusern gesäumten Pearblossom Highway entlangfuhren.

      »So schlimm ist es nicht«, sagte Nisha. »Zur Mall kommt man in fünfzehn Minuten, und da kriegt man ziemlich viel von dem, was wir auch in L.A. hatten. Sogar einen Tommy’s gibt es.«

      Ray lachte und streckte den Arm nach hinten, um ihre Hand zu nehmen. »Baby, du weißt, wo ich gewesen bin. Für mich ist das hier der Himmel.«

      Ihr Haus war beige und kastenförmig, hatte ein schräges Ziegeldach und sah genauso aus wie die drei anderen Häuser des Blocks. Von der Stange, schnell und einfach gebaut, aber groß genug, dass jedes der Kinder ein eigenes Zimmer hatte. Und Shawn ein Klappsofa.

      Kaum waren sie in die Einfahrt gefahren, kam Tante Sheila aus dem Haus geschossen. Shawn ahnte, dass sie am Fenster nach ihnen Ausschau gehalten hatte. Ray stieg aus dem Auto und fiel seiner Mutter um den Hals. Sie umarmten sich eine ganze Minute lang, während die anderen zusahen. Diesmal nahm Nisha die Szene mit dem Handy auf.

      »Mein Baby, du bist zu Hause«, sagte Tante Sheila und ließ ihren Sohn gerade so weit los, dass sie sein Gesicht in ihre Hände nehmen und nachdrücklich schütteln konnte. »Geh ja nicht wieder weg. Niemals.«

      Ohne Tante Sheila wäre auch Shawn vielleicht wieder im Knast gelandet. Sie hatte Nisha überredet, ihn aufzunehmen, bis er wieder auf eigenen Beinen stand. Einen Mann im Haus zu haben sei gut für die Kinder, argumentierte sie, und sollte er es wirklich fertigbringen, so weit von seinem alten Viertel entfernt noch einmal irgendeinen Gangstermist anzustellen, würde sie ihn eigenhändig wieder rauswerfen. Das Haus war sein Heim geworden, ein sicherer Hafen, um Atem zu schöpfen, während er in einer unsteten Welt neuen Halt fand.

      Monique war Tante Sheila hinausgefolgt. Bei Shawns Anblick rannte sie los, dass ihre zu Zöpfen gebundenen Haare auf ihrem kleinen Kopf wippten.

      »Papa Shawn«, rief sie. »Hoch! Hoch!«

      Er hob sie hoch, und sie ließ die Beine baumeln, als sie auf seinen Schultern saß. Sie kannte Shawn, seit sie alt genug war, sich überhaupt an etwas erinnern zu können.

      »Hey, Momo«, sagte er. »Das ist Onkel Ray.«

      Sie riss die Augen auf.

      »Du musst Monique sein. Ich mag deine Frisur.« Rays Stimme war sanft, und er wedelte mit dem Finger vor ihrem Gesicht. Sie lächelte, entblößte Gaumen und Milchzähne und verbarg dann ihr Gesicht an Shawns Hals.

      »Monique, Baby, sag hallo.« Jazz erschien hinter ihrer Tochter und lachte über diesen Schüchternheitsanfall. Sie legte einen Arm um Shawns Hüfte und streckte Ray die Hand entgegen. »Ich bin Jazz«, sagte sie fröhlich.

      Jazz hatte Ray unbedingt kennenlernen wollen. Sie hatte geradezu darauf bestanden. Eine der wenigen Streitigkeiten in den fast zwei Jahren ihrer Beziehung war ausgebrochen, weil Shawn sich geweigert hatte, Jazz mit nach Lompoc zu nehmen. Jazz fand, wenn sie und Ray ihm beide so wichtig waren, sollte er auch wollen, dass sie sich kennenlernten. Aber Shawn wusste, wie es sich anfühlte, unter den Blicken und der Kontrolle der Wärter in Knastkleidung und an einer unsichtbaren Leine gehalten im Besucherzentrum eines Gefängnisses zu sitzen. So sollte sie Ray nicht sehen, vor allem, weil sie ihn vorher nicht gekannt hatte.

      »Ich hab viel von dir gehört«, sagte Ray und nahm ihre Hand. Er war bei Frauen immer gut angekommen und hatte seinen alten Charme nicht verloren.

      »Von ihm?« Jazz beäugte Shawn mit deutlich sichtbarer Skepsis.

      »Nee, du kennst doch Shawn.« Ray setzte eine ausdruckslose Miene auf und sprach mit tiefer Stimme. »Jazz ist cool. Sie ist Krankenschwester. Sie hat ein Kind.«

      Jazz kicherte und zog Shawn dichter zu sich heran.

      »Aber meine Mom und Nisha halten eine Menge von dir. Bleib bei ihm, sonst brichst du uns allen das Herz.«

      Sie gingen ins Haus, wo Tante Sheila genug Essen für vierzig Leute vorbereitet hatte. Der Tisch bog sich unter Makkaroni mit Käse, frischen Buttermilchkeksen, Kartoffelsalat und gebackenen Bohnen. Es gab ein ganzes Tablett voll mit Schweinerippchen unter glänzender Barbecuesauce, und ein zweites mit Brathähnchen. Außerdem eine große Pizza von Domino’s mit Peperoni, Jalapeños und Ananas. Das war Shawns Beitrag und so ziemlich das einzige nicht hausgemachte Gericht. Schon in der Kindheit war das ihre Lieblingspizza gewesen, und Shawn wusste, wie gut sie nach jahrelangem Knastfraß schmeckte. Ray stierte die Festtafel an. Das Wasser lief ihm im offenen Mund zusammen.

      »Na, ich wär so weit«, sagte er. »Beten wir.«

      Sie standen im Kreis, hielten sich an den Händen und warteten auf Ray, als hätte er schon immer das Tischgebet für sie gesprochen. In Wahrheit konnte sich Shawn an kein einziges Mal erinnern. Als Kinder waren sie zwar regelmäßig in die Kirche gegangen, weil Tante Sheila und Onkel Richard jahrelang dafür gesorgt hatten, dass sie keinen Sonntag ausließen, aber Rays religiöser Eifer hatte seinen Ursprung in Lompoc. Manchmal nervten seine Predigten, aber der Glaube schien ihm gutzutun. Im Knast konnte man sicher Schlimmeres finden als den Weg zu Jesus.

      Ray begann zu beten. »Wir danken dir, himmlischer Vater, dass du diese Familie zusammengeführt hast. Danke für meine Frau, und dass sie stark geblieben ist. Ihre Standhaftigkeit und Liebe waren in diesen langen Jahren meine Rettung. Für meine Kinder, die so gut und wunderschön sind –«

      Seine Stimme brach, und Tante Sheila und Nisha sagten sanft Amen. Shawn öffnete die Augen und sah, dass Ray sich die Tränen abwischte. Nisha ergriff seine Hand, hielt sie fest und streichelte mit dem Daumen sein Handgelenk. Darryl und Dasha beobachteten die Szene mit großen Augen und voller Ehrfurcht.

      Ray räusperte sich und setzte das Gebet fort – lauter diesmal, fast rief er seine Worte. »Und ich danke dir, Vater im Himmel, dass du mich erlöst hast. Dass ich meinen Verstand nicht verloren habe, dass du für meine Sicherheit gesorgt hast. Dass du mich aus der Dunkelheit geführt und mich nach Hause gebracht hast, von wo mich nie wieder jemand wegholen kann.«

      Shawn schloss die Augen. Er hörte Nisha schniefen. Tante Sheila murmelte noch ein paarmal Amen.

      »Und ich bete für die, die wir verloren haben. Beschütze sie, Herr im Himmel.«

      Jazz drückte Shawns Hand, er drückte zurück.


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