Brandsätze (eBook). Steph Cha

Brandsätze (eBook) - Steph Cha


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      Shawn drehte sich um und sah, dass ihnen Ray entgegenkam, begleitet von seinem breit grinsenden besten Freund Duncan. Wieder ließ er Avas Hand los und hoffte, dass sie nichts gesehen hatten.

      »Da seid ihr ja«, sagte Ava. »Das ist irre hier. Müssen wir uns da anstellen? Sagt bloß, ihr habt euren Platz in der Schlange aufgegeben.«

      »Das ist die Schlange für die Tickets«, sagte Duncan. »Wir haben unsere schon.« Er fächerte sie mit großer Geste auf, während Ray johlte und hinter ihm einen Tanz aufführte.

      »Ihr seid echt dämlich.« Ava lachte. »Siehst du, Shawn, das kommt dabei raus, wenn man die Schule schwänzt, um ins Kino zu gehen.«

      »Hey, sei mal ein bisschen dankbar. Wir sind seit Stunden hier«, sagte Ray. Er drohte Shawn mit der Faust. »Und du denk dran, was passiert, wenn du Mom was erzählst.«

      »Vor dir hab ich keine Angst, Ray. Aber Tante Sheila würde uns alle drei verdreschen.«

      Ray lachte und öffnete die Faust wieder. Er machte nur Spaß. Und er wusste, dass Shawn den Mund halten würde. Shawn hatte Ray und Ava noch nie verpfiffen, auch nicht, als er noch kleiner war. Und wenn er ihnen Ärger einhandeln wollte, kannte er bessere Wege. Mann, wenn Tante Sheila schon nicht wollte, dass sie sich einen Gangfilm anschauten – was würde sie erst sagen, wenn sie wüsste, dass Ray in einer echten Gang war?

      Sie würde es nicht verstehen. Im Gegensatz zu Shawn. Tante Sheila wusste, dass es Gangs gab, aber sie redete über sie, als hätten sie nichts mit ihr zu tun. Sie verbot ihren Jungs nie, sich einer anzuschließen – sie schien es einfach nicht für nötig zu halten, schließlich hatte sie keine Schläger und Verbrecher großgezogen. Ihre Jungs waren anders als die bösen Jungs, die einfach so Hunde abknallten und ihren Müttern nicht gehorchten.

      Dabei gehörte ungefähr die Hälfte der Kids in der Nachbarschaft irgendwelchen Gangs an. Einige verbreiteten Furcht und Schrecken – wie der Typ, der den Nachbarshund abgeknallt hatte, der war echt böse –, aber nicht die, die Shawn kannte. Duncan schüchterte ihn zwar ein, aber aus anderen Gründen. Er war einfach überlebensgroß, witzig und clever und bei den Mädchen beliebt, und Shawn hoffte, mit sechzehn auch so zu sein wie er. Und niemand auf der Welt war weniger furchterregend als Ray. Shawn musste es wissen – sie teilten sich seit seinem fünften Lebensjahr ein Zimmer. Unter seinen coolen blauen Klamotten trug Ray Spider-Man-Boxershorts. Vor dem Einschlafen sang er mit Mädchenstimme die Songs im Radio mit und brachte Shawn damit zum Lachen. Ray und Ava waren gleichaltrig, aber Ava behandelte ihn wie einen kleinen Bruder und zog ihn wegen seiner albernen Frisuren und schlechten Noten auf. Wenn Ray ein Crip war, konnte jeder ein Crip werden.

      Sie gingen auf einen geschlossenen Elektronikladen zu, vor dem Shawn einen Haufen Kids aus ihrer Gegend entdeckte, die alle etwa so alt waren wie Ray und Ava. Manche waren vielleicht sogar schon siebzehn, alt genug, um legal in den Film zu kommen.

      »Schaut mal, wen wir gefunden haben!«, rief Duncan und zeigte auf Ava.

      Shawn sah, wie alle seine Schwester umschwärmten und sie mit Umarmungen und High Fives begrüßten. Bis zur neunten Klasse war sie mit ihnen zur Schule gegangen, dann war sie auf die Westchester gewechselt, eine Schule mit Schwerpunkt auf Musik. Alle freuten sich, sie wiederzusehen.

      Eins der Mädchen nickte Shawn zu. Er wusste ihren Namen nicht, kannte aber ihr Gesicht. Sie war früher mit Ava im Chor gewesen, und er erinnerte sich noch genau, wie sich beim Singen ihre Lippen bewegt hatten. Inzwischen war sie noch hübscher. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und nickte zurück.

      »Musst du babysitten?«, fragte sie Ava.

      Shawn wäre am liebsten im Boden versunken. Gebeugt stand er da und hoffte, dass man ihm nichts ansah. Ava lächelte ihm zu, und er wusste, dass sie ihn durchschaute. Sie legte ihm den Arm um die Schultern. »Meinen Bruder Shawn kennt ihr ja«, sagte sie.

      Sie schlossen sich der Gruppe an. Shawn hielt sich dicht an Ava, schwieg und hörte zu, wie die anderen herumalberten, unbeschwert und selbstsicher, wobei sie die ganze Breite des Gehwegs in Beschlag nahmen, als würde er ihnen gehören. Sogar Ray und Ava waren jetzt irgendwie anders, wirkten älter und cooler als zu Hause. Shawn hielt sich zurück und wartete auf eine Chance. Er hoffte, ihm würde irgendeine witzige und clevere Bemerkung einfallen, um zu beweisen, dass er nicht nur Avas komischer kleiner Bruder war.

      Ava holte ihren Walkman aus dem Rucksack und setzte den Kopfhörer schief auf, sodass er nur ein Ohr bedeckte. Sie hatte ihn zu Weihnachten bekommen. Shawn hatte sich auch einen gewünscht, aber Tante Sheila meinte, er brauche keinen, und außerdem wusste er, dass sie ihm ganz sicher keine Kassetten mit Schimpfwörtern kaufen würde. Ava drückte auf Play, blickte verträumt drein und klopfte den Takt mit den Fingern auf dem Oberschenkel mit.

      »Was hörst du da?«, fragte Duncan.

      Wieder einmal nahm Shawn seiner Tante übel, dass sie so streng war. Wenn er einen Walkman hätte, würde Duncan vielleicht ihn fragen, was er gerne hörte. Er hatte eine Liste parat: Ice Cube, Tupac, A Tribe Called Quest, Michael Jackson. Michael Jackson würde er vielleicht weglassen.

      »Kennst du nicht«, sagte Ava lächelnd.

      Duncan schnappte ihr den Kopfhörer weg und setzte ihn sich auf. »Was ist das?«

      »Einer der krassesten Tracks der 1890er.« Sie holte sich den Kopfhörer zurück, und alle lachten. Sie hatten schon mitbekommen, dass sie Klassik hörte. Ava war das nicht im Mindesten peinlich.

      »Klar kenn ich Chopin, Chopin kennt doch jeder.«

      »Das ist Debussy. Und Chopin kennt ihr nur wegen mir.«

      Das stimmte, zumindest, was Shawn und Ray anging. Ava spielte Klavier. Und sie war gut, nahm an Wettbewerben in der ganzen Stadt teil. Tante Sheila bestand darauf, dass Shawn und Ray jedes Mal mitkamen und zuhörten, selbst wenn sie dafür weit raus in Gegenden wie Glendale und Irvine fahren mussten. Einmal hatte sie in Inglewood gespielt, und ihre Freunde waren gekommen – um sich über sie lustig zu machen, wie sie gesagt hatten, aber Shawn hatte gesehen, wie sie verstummten und zuhörten, als Ava zu spielen begann.

      Trotzdem zogen sie Ava noch immer auf, auch weil sie ein Westchester-Nerd war. Als würden sie das insgeheim nicht ziemlich toll finden.

      »Und den Scheiß hörst du dir zum Spaß an?«, fragte Duncan.

      »Ich will echt nicht wissen, was du zum Spaß tust«, gab sie zurück und setzte den Kopfhörer wieder auf.

      Shawn konnte es nicht fassen. Während er einfach so dastand, brachte seine Schwester – ein Mädchen – die ganze Crew, sogar Duncan, dazu, vor Lachen zu brüllen. Sie sah sich entspannt in der Runde um, ein kleines Lächeln im Gesicht. Shawn verschränkte die Arme und schaute weg.

      Es gab viel zu sehen. Westwood war hübsch, wie eine Freiluftmall: gepflegte Straßen und helle Geschäfte, Palmen, die größer als die Häuser waren. Alles wirkte so viel ordentlicher als in ihrer Gegend, nichts war kaputt oder verfallen. Auf dem Weg hierher hatte Ava ihm erzählt, dass die Leute in Westwood vor ein paar Jahren wegen einer Gangschießerei durchgedreht waren, aber nur deswegen, weil sie quasi vor ihrer Haustür stattgefunden hatte und das Opfer ein asiatisches Mädchen gewesen war. Westwood war weit weg, aber auch nicht so weit – obwohl Ava aus Angst um Onkel Richards Auto wie eine alte Oma fuhr, brauchte man keine Dreiviertelstunde. Aber es fühlte sich an wie eine andere Stadt. Shawn beobachtete die Menschen vor dem Kino, sah ihre Ungeduld, die Aufregung in ihren Gesichtern. Ob sie auch alle von weither gekommen waren, um den Film zu sehen?

      Die Schlange war immer noch lang und wirkte zerfranster als vorhin. Der Film sollte in einer halben Stunde beginnen. Was, wenn er bald ausverkauft wäre und all die Leute wieder nach Hause gehen müssten? Shawn sah, dass die Schlange in Bewegung geriet. Sie schob sich vorwärts, löste sich auf, und die Menge drängte zum Kassenhäuschen vor. Es gab Geschrei, undeutlich, aber immer lauter.

      Er schaute Ava an, die den Kopfhörer absetzte. Als er ihren Blick sah, wusste er, dass sie fühlte, was er fühlte. In der Luft lag etwas Neues, Schweres.

      »Hey«, sagte sie. »Da


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