Lieder für die Feuersbrunst. Juan Gabriel Vásquez

Lieder für die Feuersbrunst - Juan Gabriel Vásquez


Скачать книгу
als befände sich die Verunglückte im Nebenzimmer. Der Lispler hatte auch einiges getrunken und bot J. ein allzu volles Whiskyglas an. J. tat so, als tränke sie, kam sich aber plötzlich unsichtbar vor, da die anderen nun redeten, als wäre sie nicht anwesend.

      »Der Chef ist erschrocken«, sagte einer.

      »Klar«, sagte ein anderer. »Ist ja auch nicht irgendeine.«

      »Es ist Yolanda, und er …«

      »Ja. Es ist Yolanda.«

      »Er ist erledigt, wenn ihr was passiert.«

      »Sicher. Wenn ihr was passiert, ist er erledigt.«

      Die Stimmen verschmolzen, waren eine einzige. J. wurde müde (diese verräterische Müdigkeit, mit der uns fremde Emotionen erschöpfen). Sie versank in der Hängematte, und ihr war, als deckte sie jemand zu. Sie wusste nicht, wann sie eingeschlafen war.

      Als sie aufwachte, waren die anderen in ihren Zimmern verschwunden. Im Gang mit den Hängematten war das Licht ausgeschaltet, sodass J. sich im Dunkeln befand, umgeben von kaum wahrnehmbaren Schemen. Es roch nach verbranntem Öl. In der weiten Nacht hörte man nur den Chor der Frösche und namenloser Insekten. Geleitet von einer fernen Glühbirne gelangte sie zur offenen Küche, bahnte sich einen Weg zwischen schlafenden Hunden und Geranientöpfen und fand den Kühlschrank. Sie wollte sich ein Glas Zuckerwasser mit Eis eingießen und in ihr Zimmer gehen, wie alle anderen. Am nächsten Tag würde sie sich nach der Frau erkundigen, den Morgen auf der Farm verbringen, ein paar Fotos machen und nach dem Mittagessen nach Bogotá zurückkehren. So war ihr Entschluss. Doch während sie sich auf der Holzplatte Zuckerwasser einschenkte, wanderte ihr Blick zum ruhigen Fluss, vielleicht um zu sehen, ob die Kaimane nachts hervorkamen. Kaimane sah sie nicht, dafür jedoch Umrisse in der Größe eines mächtigen Wasserschweins am Ufer. J. ging zum Holzzaun, und dort erkannten ihre Augen, die sich allmählich ans Dunkel gewöhnten, einen Hut, dann einen sitzenden Menschen, dann, dass dieser Mensch Don Gilberto war. Später sollte sie sich fragen, warum sie nicht zu Bett gegangen war, sondern beschlossen hatte, hinüberzugehen. Wegen ihrer Beobachtung beim Frühstück oder wegen dieser seltsamen Art, in der der Chef sich sorgte?

      »Guten Abend«, sagte sie, als sie herangekommen war.

      Don Gilberto drehte sich kaum um. »Wie geht es Ihnen, Señorita?«, fragte er gleichgültig.

      J. merkte, dass er weitergetrunken hatte, und fragte sich flüchtig, ob es klug sei, zu bleiben. Aber eine unbestimmte Neugier war stärker als jede Vorsicht. Der Mann saß auf dem Rasen – auf dem schütteren Gras, das widerwillig dort am Ufer wuchs –, mit rundem Rücken hielt er die Knie umklammert. J. suchte sich einen Platz zwischen dem Kot der Wasserschweine und setzte sich, ohne um Erlaubnis zu bitten, nicht neben den Mann, aber nah genung, um ein Gespräch zu führen. In der Nacht spiegelte das Wasser den verschleierten Mond, und J. versuchte sich zu erinnern, wie man die Lichtspur nannte, die der Mond aufs Meer wirft. Es fiel ihr nicht ein, und das war auch nicht das Meer, sondern ein stilles Gewässer in den Llanos Orientales, hier gab es keine Spur, sondern nur einen leichten weißlichen Widerschein.

      J. streckte ihm die Hand entgegen und nannte ihren Namen.

      »Ja, ich weiß, wer Sie sind«, sagte Don Gilberto, betonte die Konsonanten, obwohl seine Zunge ohnehin schon schwer war. »Die Fotografin, nicht wahr? Sie kommen aus Bogotá.«

      »Was für ein Gedächtnis«, sagte J. »So sind die Politiker, sie erinnern sich an alles und jeden.«

      Don Gilberto erwiderte nichts. J. fügte hinzu:

      »Das mit Ihrer Assistentin tut mir sehr leid.«

      »Ja«, sagte Don Gilberto. »Was halten Sie von der dummen Sache?«

      Dumme Sache? Yolanda würde womöglich mit schweren Gehirnschäden aus dem Koma erwachen oder mit eingeschränkter Motorik, vielleicht wachte sie auch nie mehr auf, blieb gefangen in diesem künstlichen Schlaf und kehrte nicht mehr ins Leben zurück. Das war weit mehr als eine dumme Sache, dachte J. und dachte auch, dass ihre Neugier sie nicht getäuscht hatte.

      »Nun, so würde ich es nicht nennen«, sagte J. »Die Sache ist ernst. Machen Sie sich keine Sorgen …?«

      »Ich weiß, dass die Sache ernst ist«, fiel ihr Don Gilberto ins Wort.

      »Natürlich«, sagte J. »Ich wollte nicht …«

      »Kommen Sie mir nicht mit Predigten, Sie kennen sie nicht«, sagte der Mann. »Ich schon. Ich weiß, wer sie ist, und weiß, was geschehen kann.«

      Hier brach er ab. »Verzeihen Sie«, sagte J. »Ich habe mich falsch ausgedrückt.«

      »Wenn sie stirbt, stirbt sie für mich, nicht für Sie.«

      »Ja«, sagte J. »Verzeihung.«

      Da griff der Mann zu einer Aluminiumflasche zwischen den Beinen, schraubte den Verschluss ab, der als Becher diente, und nahm einen Schluck. Das Aluminium sandte einen schüchternen Lichtstrahl aus, weiß wie auf dem ruhigen Wasser. Dann füllte Don Gilberto den Becher noch einmal und reichte ihn J.

      »Nein, vielen Dank«, sagte sie. Alkohol von ihm anzunehmen, konnte ein falsches Signal aussenden.

      Der Mann trank den Becher selbst aus und schraubte ihn wieder auf die Flasche. »Was, denken Sie, wird passieren?«, fragte er.

      »Mit ihr?«, entgegnete J., eine dumme Frage. »Ich weiß nicht, ich bin keine Ärztin. Man sagt, so etwas hinterlässt oft Spuren.«

      »Ja, aber was für Spuren? Bleibt man zum Beispiel gelähmt?«

      »Ich weiß nicht«, sagte J. »Das mag möglich sein.«

      »Oder hat sie dann etwas am Kopf? Ist sie verwirrt oder hat Amnesie? Das heißt, vergisst sie Dinge?«

      »Ah, ich verstehe«, sagte J. »Sie sorgen sich um das, was sie weiß.«

      Don Gilberto wandte sich zum ersten Mal zu ihr um (von seinem Platz aus war das nicht einfach) und sah sie an. Auch im Halbdunkel erkannte J. in den schweren Lidern die Schläfrigkeit des Betrunkenen. Nein, keine Schläfrigkeit: als wäre ihm etwas in die Augen gekommen und hätte sie gereizt.

      »Wie bitte?«, fragte Don Gilberto. »Was soll das heißen?«

      »Nichts, gar nichts«, sagte J. »Sie arbeitet mit Ihnen und weiß vielleicht über wichtige Dinge Bescheid, hat wichtige Informationen. Nichts weiter.«

      Don Gilberto blickte wieder auf den Fluss.

      »Wichtige Dinge«, wiederholte er.

      »Ja«, sagte J. »Nehme ich an.«

      »Ja, genau, Señorita, ich glaube, Sie haben recht«, sagte Don Gilberto. Er goss sich wieder Whisky in den Schraubverschluss, schenkte nach, als triebe ihn auf einmal eine Art Dringlichkeit, und fuhr fort. »Aber das weiß man eben nicht, oder? Man weiß nicht, was in so einem Kopf vorgeht. Von jemandem, der so einen Unfall gehabt hat. Wie Yolanda. Meine Assistentin. Yolanda, meine Assistentin. Sie liegt im Koma, es kann gut oder schlecht ausgehen, und jetzt liegt sie im Koma. Aber was spielt sich in diesem Kopf ab? An was wird sie sich erinnern, wenn sie aufwacht? Wird sie nichts vergessen haben? Wichtige Informationen, ja. Informationen aus all den Jahren, die sie bei mir arbeitet: schon einige, drei oder vier. Da erfährt man vieles, meine Liebe. Wichtige Dinge. Die verloren gehen können, nicht wahr? Das haben Sie gesagt. Natürlich, genau das macht mir Sorge: dass diese Dinge verloren gehen, die sie weiß. Halten Sie das für möglich? Dass sie aufwacht und alles vergessen hat, einfach so? Glauben Sie, so was kommt vor?«

      »Ja«, sagte J. »Bedauerlicherweise.«

      Don Gilberto gab ein kehliges Geräusch von sich. War es Zustimmung, Resignation? Die Frösche waren zu hören und etwas, was J. nach einer Zikade klang, vielleicht auch nicht. Sie blickte auf ihr Handgelenk und sah im spärlichen Licht, dass es bereits zwei Uhr war. Die Nacht war kalt geworden, und etwas Unbehagliches hatte sich in die Unterhaltung mit diesem Mann eingeschlichen, ein Missklang, eine Art Feindseligkeit. J.’s Neugier gelangte an die Grenze der Müdigkeit. Sie stand auf und sprach von oben auf den Hut


Скачать книгу