Lieder für die Feuersbrunst. Juan Gabriel Vásquez
J. machte sich auf den Weg zum Haus, in ihr Zimmer. Am nächsten Tag würde sie nach Bogotá zurückkehren. Die Nacht war blau und schwarz, und eine lautlose Brise erfrischte sie. Sie musste aufpassen, wohin sie den Fuß setzte, und das war ärgerlich, denn J. wäre gern sorglos, mit erhobenem Kopf vorangegangen, hätte lieber tief durchgeatmet und die Gerüche der Farm aufgesogen. Sie machte einen Umweg, damit sie ihr Zimmer nicht allzu schnell erreichte und sich noch eine Weile das Dunkel der Welt bewahrte, und so kam sie zu einem Winkel, in dem eine einsame Hängematte hing. Es war kein Gemeinschaftsbereich, eher eine private Ecke, wo (wie J. sich vorstellte) Señor Galán Siesta hielt. Sie legte sich in die Hängematte und blieb dort, schaukelte in der Dunkelheit, und im Dunkeln ging sie die Ereignisse des Tages durch: das Frühstück, das Besteck, das Yolanda von dem ihres Chefs abgerückt hatte, der Ausritt, der so schön begonnen hatte, dann Yolandas Fehler (die Zügel schießen zu lassen) und das Manöver des Llaneros, dieses blitzschnelle, erfahrene Manöver, das sich in ihrer Erinnerung nun in die Länge zog und einen Blick auf Yolandas Gesicht gestattete, auf ihre Miene, diesen lebhaften Ernst, der unsere Gesichtszüge im Notfall verzerrt, in einem Schreckmoment, in der Sekunde, die das Vorzimmer von etwas Schwerwiegendem ist. In ihrer Erinnerung tauchte auch Don Gilbertos Gesicht auf, obwohl er nicht dabei gewesen war. J. war abgestiegen, um der gestürzten Frau zu helfen, und da war auch schon der Chef, hockte neben ihr, streckte die Hand aus, als wollte er ihren Kopf stützen, ohne es jedoch zu tun. Wenn das Gedächtnis unsere Aufmerksamkeit verlangt, greift es oft zur Verzerrung oder Täuschung.
»Mist«, sagte J.
Wenn J. lange Zeit später über jenen Tag sprach, ließ sie an diesem Punkt der Erzählung eine Lücke. Dort in der Hängematte sei ihr, wie sie später erklären sollte, etwas bewusst geworden, aber was genau, wisse sie nicht, würde es nie wissen. »Mist«, hatte sie geflüstert, wie wenn uns ein Glas aus der Hand gleitet und am Boden zerspringt oder uns einfällt, dass wir etwas Wichtiges zu Hause vergessen haben (dann schlagen wir uns an die Stirn oder lassen die Faust aufs Lenkrad sausen). Sie habe die Hängematte verlassen, wie sie später erzählen sollte, und sich zu ihrem Zimmer aufgemacht, aber unterwegs (auf der Höhe des offenen Gangs, wo sie vor ein paar Stunden eingeschlafen war) drehte sie um und trat auf den Lehmweg des Gartens, so nannten ihn zumindest die Galáns, stolperte über eine Mango und schlüpfte zwischen den Zaunlatten hindurch, um ans Ufer zu gelangen, an die Stelle, wo das Ufer begann, und sie sah, dass Don Gilberto noch immer dort saß, am ruhigen Fluss.
Wie ein Gespenst glitt J. zu Don Gilberto und versuchte sich dann durch Schlurfen bemerkbar zu machen. Sie setzte sich nicht neben ihn, sondern ihm fast gegenüber, damit sie sein Gesicht besser sehen konnte. Dann sagte sie:
»Don Gilberto, es tut mir so leid. Ich habe es eben erfahren.«
»Was ist passiert?«
J. hielt Schweigen für angebracht. Don Gilberto ergriff wieder das Wort.
»Was ist passiert? Ist Yolanda gestorben?«
»Es tut mir so leid«, sagte J.
Dann sah sie es. J. sah, was in Don Gilbertos Gesicht vor sich ging, ein Aufeinanderprallen von Emotionen, ein Zucken der Muskeln, und später sollte sie über das Wunder des menschlichen Gesichts nachdenken, das mit so wenigen Instrumenten mehr Emotionen vermitteln kann, als wir zu benennen gelernt haben. Was J. sah, was sich in den geschlitzten Augen, im Bogen der Augenbrauen bemerkbar machte, war Erleichterung. Mag sein, da war zuerst Trauer oder Bestürzung, ein flüchtiger Kummer, aber Kummer, Bestürzung oder Trauer gaben der Erleichterung nach, und der Eindruck war so überwältigend, dass J., die auf der Suche nach dieser Offenbarung ans Ufer zurückgekehrt war, den Blick abwenden musste, wie beschämt von dem Schauspiel.
Kurz vor Tagesanbruch wurde sie von etwas geweckt. Ein Hahn krähte in der Ferne, wie von einer anderen Farm. J. tastete auf dem Nachttisch nach der Armbanduhr: Sie hatte nicht mehr als drei Stunden geschlafen. Dann spürte sie einen Luftzug und merkte, die Augen noch halb geschlossen, dass die Zimmertür offen stand. Aber sie erinnerte sich genau (oder glaubte sich zu erinnern), sie geschlossen zu haben. Ein Hund hatte sie wohl aufgedrückt, dachte sie, oder der Wind. Sie machte sie zu, leise, um niemanden zu wecken, ging wieder zum Bett, und da sah sie den Mann.
Don Gilberto saß auf dem anderen Bett, die Hände auf die Knie gestützt. J. hörte zuerst seinen Atem, dann seine Worte: »Habe ich Sie erschreckt, Señorita?«
J. überprüfte rasch ihre Kleidung – ein Pyjama mit Hose und Hemd – und sah zum Fenster, dann zur Tür.
»Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe«, sagte Don Gilberto. In seiner Stimme dehnten sich die Konsonanten der Trunkenheit. »Ich wollte Ihnen was erzählen.«
»Geht es nicht später?«, fing J. an. »Ich bin müde und …«
»Nein, es muss jetzt sein«, unterbrach sie der Mann. »Ich habe nämlich eine Neuigkeit.«
J. stand noch immer einen Schritt von der Tür entfernt. Sie versuchte, entschieden zu klingen.
»Was denn?«
»Dass Yolanda nicht gestorben ist«, sagte Don Gilberto. »Nicht zu fassen, oder?«
»Ah. Tatsächlich. Ich hatte das gehört.«
»Das hatten Sie gehört? Wie seltsam, oder? Von wem?«
J. antwortete nicht. Der ferne Hahn krähte wieder. Don Gilbertos Gesicht war nicht deutlich auszumachen. J. kam, eine absurde Assoziation, ein Bild von Francis Bacon in den Sinn. Don Gilbertos hängende Schultern hoben sich von der weißen Wand ab und gaben ihm einen melancholischen Anstrich, als hätte ihn die Lüge traurig gemacht, aber in seiner Stimme (dem Alkohol in seiner Stimme) steckte der Wille, zu drohen, zu erschrecken.
»Wenn Sie wüssten, wie sehr mir das missfällt«, sagte er.
»Hören Sie, Don Gilberto, ich weiß nicht, was man Ihnen gesagt hat, aber ich …«
»Getäuscht zu werden. Wie sehr mir das missfällt, getäuscht zu werden. Das war sehr hässlich, Kleines.«
Kleines, dachte oder registrierte J.
»Ich hatte das gehört«, sagte sie.
»Nein, das glaube ich nicht. Nichts haben Sie gehört. So was Dummes, was? Eine dumme Sache. Eine beschissene, dumme Sache haben wir da.«
»Es war ein Irrtum«, sagte J.
»Ein Scheiß war das«, sagte der Mann. »So was macht man nicht, Süße. Muss ich Ihnen das beibringen? Beibringen, dass man so was nicht macht?«
J. war sich bewusst, dass sie zwischen dem Mann und der Tür stand. Sie ging zum Fenster hinüber, damit man sie sehen konnte, denn bald würden die ersten Arbeiter kommen, und so gab sie auch den Weg frei für den Mann: als öffnete man eine Tür und machte draußen Licht, um eine Motte aus dem Zimmer zu locken.
Der Mann sagte:
»Ihr wollt gar nichts lernen, was?« Und dann: »Sie fahren heute, nicht wahr, Kleines?« Und dann: »Ja, Sie fahren heute. Damit ich Sie nicht mehr sehe, nicht mehr sehen muss.«
Langsam stand er auf, als trüge er schwer an seinen Schultern, und trat hinaus in die Morgendämmerung.
III
»Waren Sie schon einmal in Las Palmas?«
Zwanzig Jahre später fand J. sich wieder dieser Frau gegenüber, deren Tod sie erfunden hatte. Den ganzen Samstag lang, bei ihren Begegnungen auf dem Gang, am Frühstücks- und am Mittagstisch, hatte sie versucht, in ihren Zügen eine Spur des Unfalls zu erkennen. Grub sich so etwas nicht ins Gesicht? Konnte man derlei durchmachen, ohne dass es sich für immer ins Gesicht einschrieb? Aber Yolandas Züge (J. fiel jetzt auf, dass sie niemals ihren Nachnamen erfahren hatte) verrieten nicht das Geringste. Sie musste um die fünfzig sein, vermutete J., aber ihr Blick hatte etwas Kindliches, Unschuldiges. Und nun fragte diese unschuldige Frau, ob sie schon einmal in Las Palmas gewesen war. Und J. zögerte keine Sekunde.
»Nein, noch nie«, sagte sie. »Es ist das erste Mal.«
»Und gefallen