Lieder für die Feuersbrunst. Juan Gabriel Vásquez
bestimmten Ort –, und sie tadelten mich, weil ich mich nicht besser informiert hatte, und boten mir dann ihre eigenen Geschichten für mein nächstes Buch an. Ich antwortete höflich ausweichend (aus einem Aberglauben heraus, den ich nicht erklären kann, habe ich noch nie ein Angebot kategorisch abgelehnt). Und Wochen später bekam ich eine ähnliche Mail oder die Mail von dem Bekannten eines Bekannten, der im Hotel Sabaneta interniert gewesen sei und mir notfalls Auskunft erteilen könne. Deshalb überraschte es mich nicht, als ich im Februar 2006 einen Umschlag erhielt, auf dessen Rückseite ein deutscher Name stand. Ich gestehe, dass ich einige Sekunden brauchte, bis ich ihn identifizierte, dass ich erst auf der zweiten, dritten Stufe zu meinem Hauseingang ein Gesicht zu dem Namen vor mir sah. Ich öffnete den Brief auf der Treppe, fing im Aufzug mit dem Lesen an und beendete ihn stehend in der Küche meiner Wohnung, die Reisetasche noch über der Schulter, die Eingangstür sperrangelweit geöffnet, der Schlüssel noch im Schloss.
Stell dir vor, wie komisch (stand in dem Brief), im Spanischen gibt es kein Wort für das, was ich bin. Wenn deine Frau stirbt, bist du ein Witwer, wenn dein Vater stirbt, bist du eine Waise, aber was bist du, wenn dein Sohn stirbt? Der Tod eines Sohnes ist so grotesk, dass die Sprache kein Wort dafür gefunden hat, obwohl Tag für Tag Kinder vor ihren Eltern sterben und Eltern Tag für Tag unter dem Tod ihrer Kinder leiden. Ich habe deinen Weg verfolgt (stand in dem Brief), wollte mich aber bis jetzt nicht melden. Wollte dir weder begegnen noch schreiben. Weißt du, warum? Weil ich dich gehasst habe. Jetzt hasse ich dich nicht mehr, das heißt, nur an manchen Tagen, dann verlasse ich morgens voll Hass auf dich das Bett und wünsche deinen Tod, oder ich stehe auf und wünsche mir, dass deine Kinder sterben, falls du Kinder haben solltest. Aber nur an manchen. Verzeih, wenn ich dir das brieflich sage, so etwas sollte man einem ins Gesicht sagen, direkt und persönlich, aber das ist in diesem Fall nicht möglich, weil du drüben lebst, in Barcelona, und ich hier, in einem Häuschen in Chía, das ich mir nach der Scheidung gekauft habe. Du weißt bestimmt von der Scheidung, ganz Bogotá hat in dem Jahr davon gesprochen, all die hässlichen Einzelheiten kamen ans Licht. Nun gut, darauf will ich nicht näher eingehen, will dir jetzt nur gestehen, dass ich dich gehasst habe. Ich habe dich gehasst, weil du nicht Ernesto warst, denn es fehlte so wenig, und du wärst Ernesto gewesen, warst es aber nicht. Ihr habt dieselbe Schule besucht, wusstet dieselben Dinge, wart in derselben Fußballmannschaft, habt in derselben Reihe im Teatro Patria gesessen, aber du hast zuerst die Kugel aus dem Beutel gezogen, die für Ernesto bestimmt gewesen war. Du hast ihn nach Tolemaida geschickt, und das will mir einfach nicht aus dem Kopf. Würdest du Yammara oder Zúñiga heißen, mein Sohn wäre noch lebendig, und ich hätte mein Leben noch im Griff. Aber mein Sohn ist tot, er hat diesen Scheißnachnamen, dieser Scheißname ist schuld an seinem Tod, der Name, der auf seinem Grabstein steht. Vielleicht kann ich es mir selbst nicht verzeihen, dass ich ihm diesen Namen gegeben habe.
Aber weshalb solltest du all das verstehen (stand in dem Brief)? Da du nicht mal den Schneid gehabt hast, auf dem Friedhof zu erscheinen, um dich von deinem langjährigen Freund zu verabschieden. Da du drüben lebst, fern von diesem Land, wo man seinen Militärdienst leistet und womöglich mit dem Leben dafür bezahlt. Du lebst bequem, was soll dich das kümmern? Da du dich seit dem Tod deines Freundes versteckst, weil du Schiss hast, den Dingen ins Auge zu sehen und dir bewusst zu machen, dass eine Familie zerstört wurde, eine Familie, die deine hätte sein können und es bloß aus glücklichem Zufall nicht war. Wovor hast du Angst? Dass es eines Tages dich trifft? Das wird es (stand in dem Brief), glaub mir, eines Tages kommt der Moment, an dem du merkst, dass man manchmal die anderen braucht, und wenn sie nicht im richtigen Augenblick für dich da sind, kann dein Leben in die Brüche gehen. Ich weiß nicht, was mit meinem geschehen wäre, wenn ich dich am Tag der Beerdigung hätte umarmen und dir für dein Kommen danken können, oder wenn du einmal die Woche zum Mittagessen gekommen wärst wie damals, als Ernesto beim Militär war und Ausgang hatte. Wir haben über den Gefreiten Jaramillo gesprochen, Ernesto hat uns von dem Kerker erzählt und von der Boa, die man den Rekruten um die Schultern gelegt hat. Manchmal glaube ich, all das hätte ich besser verkraftet, wenn ich es mir gemeinsam mit dir am Tisch hätte in Erinnerung rufen können. Ernesto hat dich geliebt, Freunde fürs Leben wärt ihr gewesen. Und du hättest uns eine Stütze sein können, wir haben dich geliebt (stand in dem Brief), hatten dich ebenso ins Herz geschlossen, wie Ernesto es getan hat. Aber nach all dem (stand in dem Brief) kräht kein Hahn mehr: Du bist nicht da gewesen. Wir haben dich gebraucht, und du warst nicht da, hast dich versteckt, uns deine Unterstützung verweigert, und dann lief es immer schlechter, bis alles zusammenbrach. Das war an Weihnachten, zehn Jahre ist das her, wie die Zeit vergeht. Ich erinnere mich nicht mehr genau daran, aber die Leute haben mir nachher gesagt, ich hätte sie um den Tisch gejagt, Pilar hätte sich ins Bad flüchten müssen. Dagegen erinnere ich mich noch gut daran, dass ich die Feier verlassen, den Wagen genommen habe und einfach drauflosgefahren bin, und erst beim Parken habe ich gemerkt, dass ich an der Puente Aranda war, auf demselben Parkplatz, wo immer die Busse von Tolemaida angekommen sind, auf demselben Platz, wo wir beide manchmal auf Ernesto gewartet haben und einmal eine Unterhaltung hatten, die ich nie vergessen werde.
All das stand in dem Brief. Ich weiß noch, dass ich als Erstes dachte: Er ist krank. Er stirbt. Und gleich darauf kam ein Gefühl der Bestürzung, nicht der Traurigkeit, der Nostalgie oder Empörung (auch wenn eine gewisse Empörung über Antonio Wolfs Anschuldigungen sicher legitim gewesen wäre). Ich beantwortete den Brief nicht, überprüfte die Rückseite des Umschlags, sah, dass der Absender – dieses Häuschen in Chía – vollständig war, und verwahrte Umschlag und Brief im Bücherregal meines Arbeitszimmers zwischen zwei Fotoalben mit Bildern meiner Töchter, dieser Töchter, denen Antonio Wolf den Tod gewünscht hatte. Vielleicht wählte ich diesen Platz, um den Brief zu bannen, zweifellos mit Erfolg, denn oft schlug ich im folgenden Jahr die Alben auf und sah mir die Fotos meiner Töchter an, doch den Brief las ich kein zweites Mal. Vielleicht hätte ich ihn nie wieder gelesen, hätte ich im Januar 2007 nicht von Antonio Wolfs Tod erfahren. An einem bitterkalten Montag war ich aufgestanden, hatte mein Mailprogramm geöffnet, und da war die Sammelnachricht, verschickt von der Vereinigung ehemaliger Absolventen meiner Schule. Man meldete das Hinscheiden – ein Wort, das ich schon immer gehasst habe –, Datum und Uhrzeit der Begräbnisfeierlichkeiten – das Gleiche gilt für dieses Wort – und erinnerte daran, dass der Verblichene – noch so ein Wort – Vater eines früheren Schülers gewesen war, erwähnte jedoch nicht den Tod des Sohnes, so viele Jahre vor dem seinen. Als ich drei Monate später wieder nach Bogotá reisen musste, steckte ich den Brief in meine Unterlagen. Denn ich kenne mich, kenne meine Eigenarten und Obsessionen und wusste, dass ich es später bereuen würde, das Häuschen nicht gesehen zu haben – und sei es nur von Weitem –, wo Antonio Wolf seine letzten Jahre verlebt hatte, die Jahre seines Niedergangs und seines Todes, und wo der feindseligste und zugleich intimste Brief entstanden war, den ich jemals erhalten hatte. Nach meiner Ankunft ließ ich zwei Tage verstreichen, doch am dritten nahm ich den Umschlag und legte mit einem Leihwagen die circa dreißig Kilometer zurück, die zwischen Bogotá und Chía liegen.
Das Haus zu finden, war nicht schwierig. Chía ist ein winziger Ort, in einer knappen Viertelstunde hat man ihn durchquert. Die Nummerierung der Straßen führte mich zu einer geschlossenen Wohnanlage: zehn Häuser aus billigen Ziegeln, die einander in zwei Fünferreihen gegenüberstanden und von einer Fläche aus den gleichen Ziegeln getrennt waren, in diesem Lachsrot, das immer wie neu wirkt. Auf dem Platz lagen ein Fußball (einer von den neuen: silbern-gelb gemustert) und eine Plastikthermosflasche. Vor einigen Häusern standen Motorräder, weiter hinten beugte sich ein Mann in Sandalen mit bloßem Oberkörper über den laufenden Motor eines Renault 4. So stand ich auf dem Gehweg gegenüber dem Pförtnerhäuschen mit den getönten Scheiben, verengte die Augen, um die Nummern zu entziffern und das Haus von Antonio Wolf zu identifizieren, als der Pförtner herauskam und mich fragte, wohin ich wolle. Ich hätte nicht überraschter sein können, als er ins Häuschen zurückging, über die Sprechanlage anrief, wieder herauskam und sagte: »Folgen Sie mir.« Und ich folgte ihm. Zehn, zwanzig, dreißig Schritte. Leute sehen hinter Spitzenvorhängen hervor, um den Besucher zu begutachten; eine Tür geht auf, eine Frau kommt heraus. Sie ist um die vierzig, trägt eine Schürze mit Weihnachtsmotiven, obwohl schon vier Monate seit Weihnachten vergangen sind, und trocknet sich die Hände. Unter dem Arm hat sie eine gerippte Plastikmappe, eine von denen mit Klettverschluss.
»Das hat Don Antonio für Sie dagelassen«, die Frau reichte