Lieder für die Feuersbrunst. Juan Gabriel Vásquez

Lieder für die Feuersbrunst - Juan Gabriel Vásquez


Скачать книгу
wollte mich verabschieden, aber die Frau hatte mir bereits den Rücken gekehrt und ging zur Haustür.

      Als ich wieder im Wagen saß, legte ich die Mappe auf den Brief: zwei Schriftstücke, durch die Antonio Wolf in meinem Leben präsent blieb, sechzehn Jahre, nachdem wir uns das letzte Mal begegnet waren. Ich fuhr los (aus seltsamer Scham), damit ich nicht vor der Wohnanlage, vor dem Pförtnerhäuschen stehen blieb, hatte mir aber schon überlegt, zum Centro Chía zu fahren, dessen riesiger Parkplatz gebührenfrei ist und von niemandem kontrolliert wird. Das tat ich auch, gelangte zu dem Einkaufszentrum, parkte vor dem Kaufhaus Los Tres Elefantes und machte mich daran, den Inhalt der Mappe durchzugehen. Nichts von dem, was ich darin fand, überraschte mich. Bereits vor dem Öffnen wusste ich im Grunde, was ich finden würde, wie manches Wissen schon im Hinterkopf existiert, noch bevor das einsetzt, was wir Intuition oder Vorahnung nennen.

      Das älteste Dokument war eine Seite aus dem Jahrbuch des Gymnasiums. Darauf hielten wir beide, Ernesto und ich, im Trikot der Fußballmannschaft den Pokal eines Bogotaer Turniers hoch. Dann kam ein Exemplar der Zeitschrift Cromos vom April 1997, aufgeschlagen auf der Seite, die in fünf kurzen Zeilen von der Veröffentlichung meines ersten Romans berichtete. Unwillkürlich schob ich den Beifahrersitz nach hinten, um mehr Platz zu haben, und verteilte alle Dokumente über das Wageninnere, benutzte jede verfügbare Fläche – das Armaturenbrett, die geöffnete Klappe des Handschuhfachs, den Rücksitz, die Mittelarmlehne –, um mein Leben chronologisch anzuordnen, ausgehend von Ernestos Tod. Da waren all die Artikel über meine Bücher, alle Rezensionen, alle Interviews, die in der kolumbianischen Presse erschienen waren. Manche Dokumente waren keine Originale, sondern verblichene Fotokopien, als hätte Antonio über andere davon erfahren und die Zeitschrift in einem Archiv kopieren müssen. Manche Zeilen waren unterstrichen, nicht mit Bleistift, sondern mit billigem Kugelschreiber, Passagen, in denen ich zu großspurigen oder schlicht dummen Erklärungen ausholte, Gemeinplätze abspulte oder hohle Antworten auf hohle Journalistenfragen gab. In den Rezensionen zu meinem Roman über die Deutschen in Kolumbien waren mehr Passagen unterstrichen, und in jedem Kommentar über das Exil, das Leben anderswo, die Schwierigkeiten der Anpassung, über das Gedächtnis und die Vergangenheit und über die Art, in der wir unsere Fehler von unseren Vorfahren erben, verrieten Antonios Unterstreichungen einen Stolz auf mich, der mir unbehaglich war und bei dem ich mich schäbig fühlte, als stünde er mir nicht zu.

      Nie erfuhr ich, wer die Frau gewesen war, die mir die Mappe überreicht hatte. Damals kamen mir natürlich mehrere Möglichkeiten in den Sinn, und auf der Rückfahrt nach Bogotá spielte ich mit meinen Ideen, stellte mir Antonio Wolfs unbekanntes Leben vor, während ich gedankenverloren auf der Autobahn dahinfuhr. Womöglich war es eine Frau aus dem Ort, vielleicht eine Bäuerin, und Wolf hatte sie als Haushaltshilfe eingestellt und nach und nach gemerkt, dass er niemand anderen mehr auf der Welt hatte. Auch die Frau war womöglich alleinstehend oder hatte eine Tochter, eine junge Tochter, die Wolf bei sich aufgenommen hatte. Ich stellte mir vor, wie sich die Beziehung zwischen zwei einsamen, verstörten Menschen veränderte, stellte mir schuldvolle Sexszenen vor, die bei Angehörigen und Freunden für Empörung sorgten, stellte mir Wolf vor, der beschloss, dass die Frau nach seinem Tod in dem Haus bleiben sollte. Aber vor allem stellte ich mir vor, wie er hingebungsvoll das Leben eines anderen sammelte und das Gefühl hatte, kraft der fremden Dokumente die Leere auszufüllen, die die Abwesenheit des Sohnes in seinem Leben hinterlassen hatte. Ich stellte ihn mir vor, wie er der Frau von dem jungen Mann erzählte, der Bücher schrieb und in der Fremde lebte. Ich stellte mir vor, wie er nachts davon träumte, dass dieser junge Mann sein Sohn und am Leben war, in der Fremde wohnte und sich dem Schreiben von Büchern widmete. Ich stellte mir vor, wie er in Gedanken mit der Möglichkeit spielte, zu lügen und der Frau zu sagen, der junge Mann sei in Wirklichkeit sein Sohn, und für den kurzen Augenblick der Lüge, stellte ich mir vor, empfand er eine Illusion von Glück.

      Конец ознакомительного фрагмента.

      Текст предоставлен ООО «ЛитРес».

      Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.

      Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.

/9j/4AAQSkZJRgABAQABMQExAAD/4QD8RXhpZgAATU0AKgAAAAgABwESAAMAAAABAAEAAAEaAAUA AAABAAAAYgEbAAUAAAABAAAAagEoAAMAAAABAAIAAAExAAIAAAAkAAAAcgEyAAIAAAAUAAAAlodp AAQAAAABAAAAqgAAAAAAAAX0AAAABQAABfQAAAAFQWRvYmUgUGhvdG9zaG9wIENDIDIwMTkgKE1h Y2ludG9zaCkAMjAyMDoxMToxMCAxMToyMTo1OAAABJAEAAIAAAAUAAAA4KABAAMAAAABAAEAAKAC AAQAAAABAAAHMKADAAQAAAABAAALuAAAAAAyMDIwOjExOjEwIDExOjA4OjIwAP/hEeZodHRwOi8v bnMuYWRvYmUuY29tL3hhcC8xLjAvADw/eHBhY2tldCBiZWdpbj0i77u/IiBpZD0iVzVNME1wQ2Vo aUh6cmVTek5UY3prYzlkIj8+IDx4OnhtcG1ldGEgeG1sbnM6eD0iYWRvYmU6bnM6bWV0YS8iIHg6 eG1wdGs9IlhNUCBDb3JlIDUuNC4wIj4gPHJkZjpSREYgeG1sbnM6cmRmPSJodHRwOi8vd3d3Lncz Lm9yZy8xOTk5LzAyLzIyLXJkZi1zeW50YXgtbnMjIj4gPHJkZjpEZXNjcmlwdGlvbiByZGY6YWJv dXQ9IiIgeG1sbnM6eG1wTU09Imh0dHA6Ly9ucy5hZG9iZS5jb20veGFwLzEuMC9tbS8iIHhtbG5z OnN0UmVmPSJodHRwOi8vbnMuYWRvYmUuY29tL3hhcC8xLjAvc1R5cGUvUmVzb3VyY2VSZWYjIiB4 bWxuczpzdEV2dD0iaHR0cDovL25zLmFkb2JlLmNvbS94YXAvMS4wL3NUeXBlL1Jlc291cmNlRXZl bnQjIiB4bWxuczpwZGZ4aWQ9Imh0dHA6Ly93d3cubnBlcy5vcmcvcGRmeC9ucy9pZC8iIHhtbG5z OmRjPSJodHRwOi8vcHVybC5vcmcvZGMvZWxlbWVudHMvMS4xLyIgeG1sbnM6cGhvdG9zaG9wPSJo dHRwOi8vbnMuYWRvYmUuY29tL3Bob3Rvc2hvcC8xLjAvIiB4bWxuczp4bXA9Imh0dHA6Ly9ucy5h ZG9iZS5jb20veGFwLzEuMC8iIHhtbG5zOnBkZng9Imh0dHA6Ly9ucy5hZG9iZS5jb20vcGRmeC8x LjMvIiB4bWxuczpwZGY9Imh0dHA6Ly9ucy5hZG9iZS5jb20vcGRmLzEuMy8iIHhtcE1NOlZlcnNp b25JRD0iMSIgeG1wTU06SW5zdGFuY2VJRD0ieG1wLmlpZDpmMTU2ZTQ2MC01NjI5LTQ4NjgtYWU0 MS1lZjNjMGY2MDY0ODAiIHhtcE1NOlJlbmRpdGlvbkNsYXNzPSJwcm9vZjpwZGYiIHhtcE1NOkRv Y3VtZW50SUQ9InhtcC5pZDo5MTM0MzI1YS1mYzAyLTQ3MDAt

Скачать книгу